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Willkommen beim Partytag!

Rot-Rot-Grün ist viel kritisiert worden im ersten Jahr – zu unrecht, wie die Grünen finden. Auf ihrem Parteitag feiern sie deswegen vor allem sich und ihre drei SenatorInnen

Von Bert Schulz

Der grüne Parteitag ist noch keine zwei Stunden alt, als endgültig klar wird, worum es hier in einer ehemaligen Kreuzberger Kirche geht. Monika Herrmann, Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, spricht über das Tourismuskonzept. „Ich war erstaunt, wie schnell das ging“, sagt die bekannte Parteilinke, und fügt hinzu: „Jeder Schritt geht dabei in die richtige Richtung.“ Das für Grünen-Verhältnisse fast schon überschwängliche Lob geht ausgerechnet an Ramona Pop, Wirtschaftssenatorin, Oberreala und damit der inhaltliche Gegenpart von Herrmann. Die Enden der grünen Parabel, sie treffen sich an diesem Samstag. Das Ergebnis ist Harmonie, fast grenzenlos.

Ganz überraschend kommt das ungewohnte Lob nicht. Friedrichshain-Kreuzberg ist der vom Partytourismus mit am stärksten geplagte Bezirk; alles andere als ein Weiter-so verbessert dort die Lage für die Anwohner. Das von Pop vor wenigen Tagen präsentierte Konzept geht weg vom aktuellen „Hier tanzt der Bär rund um die Uhr“ und legt dazu Schwerpunkte auf Attraktionen auch in den Außenbezirken.

Und schon am Tag vor dem Parteitreffen hat die Vorsitzende Nina Stahr Erwartungen auf kontroverse Debatten gedämpft. „Die Mitglieder sind ziemlich begeistert von dem, was wir an der Regierung machen.“ Ähnlich wie eine Woche zuvor auf dem Bundesparteitag, als sich die Grünen für ihr staatsmännisches Auftreten bei den dann nicht wegen ihnen gescheiterten Jamaika-Verhandlungen priesen, wollten sich die Hauptstadt-Grünen endlich mal feiern. Schließlich sind sie in ihrer Hochburg Berlin mit Rot-Rot-Grün erstmals richtig an der Regierung, können gestalten – und tun das nach Überzeugung der Teilnehmer auch. Der Parteitag wird zum Partytag.

So wird die Debatte über den ersten Leitantrag – in dem es um die bisherige Arbeit von R2G geht – zur vielstimmigen Lobeshymne für die drei grünen Senatsmitglieder, die tolle, engagierte und natürlich jetzt schon erfolgreiche Arbeit machen würden. Verkehrs- und Umweltsenatorin Regine Günther (eigentlich parteilos, von den Grünen aufgestellt) habe den Kohleausstieg des Landes bis 2030 durchgesetzt und leiste Pionierarbeit mit dem so gut wie verabschiedungsbereiten Entwurf des deutschlandweit ersten Mobilitätsgesetzes. Ebenso Justizsenator Dirk Behrendt mit seinem Schwerpunkt auf Antidiskriminierung.

Und Wirtschaftssenatorin Pop sorge für dringend benötigte Investitionen etwa bei der BVG und habe das noch unter Rot-Schwarz gegründete Stadtwerk „entfesselt“, sprich überhaupt erst zu einem überlebens- und handlungsfähigen Stromanbieter auf dem Energiemarkt gemacht. Die drei Regierungsmitglieder, die wie der gesamte rot-rot-grüne Senat im ersten Jahr nicht nur Huldigungen bekommen hatten von Medien, Opposition und teils auch den politischen Partnern, nehmen das fast gerührt entgegen.

Ein Jahr Rot-Rot-Grün

Der Start Am 8. Dezember 2016 wurde Michael Müller von SPD, Linkspartei und Grünen zum Regierenden Bürgermeister gewählt – die erste Koalition dieser Art auf Landesebene unter SPD-Führung.

Der Verlauf Nach arg holprigem Anfang fing sich die Koalition spätestens mit den Haushaltsberatungen im Sommer. Seitdem wurden zahlreiche Projekte angestoßen, aber noch wenig umgesetzt.

Der Ausblick Die nächsten Wahlen stehen 2021 an.

Kritik bleibt die dezent formulierte Ausnahme, selbst als ein Delegierter aus Friedrichshain-Kreuzberg den rund 150 Teilnehmern ein entsetztes „Seid ihr etwa mit allem zufrieden?“, vom Pult entgegen wirft. Mehrere Redner machen darauf aufmerksam, dass die Stimmung – auch was die grüne Politik betreffe – draußen in der Stadt leider nicht ganz so berauschend sei wie auf dem Parteitag. Es gebe Unmut über fehlende Schulplätze und mangelhafte Anbindung durch unzuverlässigen Öffentlichen Nahverkehr. Und man müsse den Berlinern auch vermitteln, wenn die Lösung eines Problems länger dauere.

Fraktionschefin Antje Kapek erinnert daran, dass viele Berliner weiterhin Angst um ihre Sicherheit hätten, vor allem vor einem Anschlag, wobei allerdings der Straßenverkehr in Berlin das weitaus größere Risiko darstelle. In den beiden Tagen zuvor waren zwei Radfahrer unverschuldet ums Leben gekommen. Die Zahl der Radtoten hat sich damit auf neun in 2017 erhöht.

Immerhin sind sich alle einig, dass noch viel Arbeit ansteht. Unklar bleibt indes, wie viele Versäumnisse der Vergangenheit aufgearbeitet werden müssen: zehn Jahre Sparkurs sprich Haushaltskonsolidierung, wie Ramona Pop sagt? 15 Jahre „brutalster Abbau der Verwaltung“, was Monika Herrmann anmerkt? 20 Jahre verpatzte Wohnungspolitik, wie die Abgeordnete Katrin Schmidberger meint? Gar 100 Jahre autogerechte Stadt (Kapek)?

Einige eigentlich kontroverse inhaltliche Punkte umschiffen die Delegierten souverän. Das auch im Berliner Landesverband nicht unumstrittene Jamaika-Verhandlerteam auf Bundesebene wurde gar nicht erst angesprochen; die direkte gewählte Bundestagsabgeordnete aus Friedrichshain-Kreuzberg, Canan Bayram, ist krank und nicht vor Ort. Sie hatte schon vor Beginn der Sondierung ihr Nein zu einer solchen Koalition angekündigt und im taz-Interview nach dem Scheitern eine Debatte angekündigt darüber, „inwieweit die grünen Verhandler ihr Mandat überschritten haben“.

In ihrem zweiten wichtigen Antrag fordern die Grünen mehr Engagement für die Integration von Geflüchteten. Das hatte im Vorfeld des Parteitags für Aufregung gesorgt: Sollte der Antrag auch ein Angriff auf die im Senat dafür zuständige Linkspartei-Senatorin Elke Breitenbach sein? „Wir wollen, dass da mehr passiert“, hatte Parteichef Werner Graf im taz-Interview gesagt. Am Samstag betont Graf, die Grünen wollten bei diesem Thema nicht verstummen, Veränderungen aber mit Breitenbach, nicht gegen sie anzustreben.

Die Enden der grünen Parabel, sie treffen sich an diesem Tag. Das Ergebnis: Harmonie

In dem Antrag wird zudem die Abschaffung des Berliner Neutralitätsgesetzes verlangt, also etwa das Verbot für Lehrerinnen, ein Kopftuch zu tragen. „Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ lasse sich dieses pauschale Verbot nicht mehr halten, heißt es darin. Junge Musliminnen der zweiten und dritten Generation erlebten das Gesetz als Berufsverbot.

Auch dieser Vorstoß ist am Samstag Konsens – zumindest spielt das Thema keine Rolle in der Debatte. „Ich möchte, dass es Lehrerinnen mit Kopftuch gibt. Und ich erwarte zugleich, dass sie die Religionsfreiheit von Schülerinnen verteidigen, die kein Kopftuch tragen wollen“, beschreibt die frühere Landeschefin Bettina Jarasch die schwierigen Anforderungen an die Realität.

Schneller als erwartet ist der Partytag vorbei. Am Ende sind die Grünen ihrem Zeitplan zwei Stunden voraus. So schön kann Regieren sein.

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