Kommentar G20-Polizeistrategie: Leider keine Beweise
Für einen Hinterhalt im Schanzenviertel beim G20-Gipfel gibt es keine Beweise. Die Polizei sah bei der Randale lange zu. Eine bewusste Eskalation?
taz | Es ist die Schlüsselszene für die G20-Krawalle Anfang Juli: Ein Mob aus pan-europäischen Autonomen und Hamburger Spaß- und Wutbürgern zerlegt das Schanzenviertel; brandschatzt, plündert und prügelt – und die Polizei tut: nichts. Über zwei Stunden schauen die hochgerüsteten Einheiten von beiden Seiten der Straße aus zu, Wasserwerfer und Räumpanzer bleiben stehen. Zu gefährlich sei ein Einsatz gewesen, wird die Polizei hinterher über diesen Moment sagen, in dem für viele Hamburger das Vertrauen in diesen Staat kaputt gegangen ist.
Man habe einen Hinterhalt befürchtet, so die Polizei. Randalierer hätten Molotowcocktails und Gehwegplatten von Dächern werfen wollen. Drei Monate später gibt es dafür keinerlei Beweise. Der eine Molotowcocktail, der geflogen sein soll, entpuppt sich als simpler Böller. Zertrümmerte Gehwegplatten fanden sich überall – nur nicht auf Dächern.
Das nach zwei Krawallstunden aus der Elbphilharmonie herüberbeorderte Sondereinsatzkommando hat zwar Menschen von einem Dach geholt, aber keine Wurfgeschosse. Und die Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten aus der ganzen Republik, die sich rund ums Schanzenviertel gegenseitig auf den Füßen standen, verfolgten zwar stundenlang einzelne Flaschenwerfer, die nun Woche für Woche abgeurteilt werden – aber die vermeintlichen „Terroristen“, die aus luftiger Höhe „Mordanschläge“ auf Polizisten geplant haben sollen, haben die Spezialisten der Polizei wohl vergessen.
Und jetzt soll auch noch der Verfassungsschutz die Polizei gewarnt haben, jenes Amt, das sich Tage vor dem Gipfel mit der bahnbrechenden Erkenntnis zu Wort gemeldet hatte, die Anmelder der großen, linken Demos seien Linksextremisten – und damit ungefähr so viel Aktualitätskompetenz bewiesen hat wie ein historisches Seminar.
Die These, die Polizeiführung habe die Lage am Freitagabend bewusst eskalieren lassen, um ihre Übergriffe auf Aktionscamps und die „Welcome to hell“-Demonstration ex post zu rechtfertigen, kursierte schon am selben Abend. Sie gewinnt gerade erheblich an Plausibilität.
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