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Berliner Wochenkommentar IDie Bevölkerung, nicht das Volk

Das Wahlrecht an die Staatsbürgerschaft zu knüpfen ist in der Einwanderungsgesellschaft ebenso unlogisch wie altmodisch.

Das gilt nicht für jeden. Foto: dpa

An diesem Sonntag dürfen 600.000 erwachsene BerlinerInnen bei der Wahl des Bundestags nicht mitwählen. Der Grund: Sie haben keinen deutschen Pass. Wahlberechtigt sind exakt 2.496.096 BerlinerInnen. Die 600.000 sind also ziemlich genau ein Fünftel der erwachsenen Bevölkerung der Hauptstadt. In manchen Bezirken mit hohem Zuwandereranteil wie etwa in Mitte ist es jeder Dritte, der nicht mitwählen darf.

Das ist – das kann man als DemokratIn wohl schwer anders sehen – total ungerecht. Nicht einmal beim Volksentscheid über die Schließung oder Offenhaltung des Flughafens Tegel dürfen diese Nachbarinnen und Nachbarn mit entscheiden – eine Abstimmung, die vielleicht noch direkter als die Bundestagswahl vor Augen führt, wie politische Partizipation direkt den eigenen Lebensalltag beeinflusst.

Klar, es gibt unter den 600.000 BerlinerInnen ohne deutsche Staatsangehörigkeit sicher viele, die erst seit Kurzem hier leben und/oder vielleicht nicht vorhaben, lange zu bleiben. Aber es gibt, wie die Symbolwahl für Menschen ohne deutschen Pass im Bezirk Mitte diese Woche zeigte, eben auch viele, die 20 Jahre oder länger hier leben, aber aus den unterschiedlichsten (privaten, emotionalen, ökonomischen, politischen) Gründen nicht die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt haben – und trotzdem hier mitentscheiden möchten.

Denn sie leben hier, schicken ihre Kinder hier zur Schule, zahlen Steuern, Renten- und Arbeitslosenversicherung, leiden unter Gentrifizierung, Fluglärm, Niedriglohn – und politischer Entmündigung. Es wäre so leicht, wenigstens jenen – nur noch rechtlich gesehen –AusländerInnen das Wahlrecht zuzugestehen, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben. Das Wahlrecht von der Staatsbürgerschaft abhängig zu machen ist in Zeiten moderner Einwanderungsgesellschaften ebenso unlogisch und altmodisch wie die rechtliche Verknüpfung jener mit der Abstammung. Es stammt aus einer Zeit, als demokratische Macht vom sogenannten Volk und nicht von der tatsächlichen Bevölkerung auszugehen hatte – und die wünscht sich hoffentlich nur noch die AfD zurück.

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6 Kommentare

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  • 8G
    85198 (Profil gelöscht)

    Auf Kommunal- und Landesebene kann ich dieses Argument teilen.

    Aber auf Bundesebene sehe auch nicht dass es Sinn macht, wenn es Privilegierte gibt, die 2 mal wählen dürfen.

    Mit europäischem Wahlregister wäre das einfacher, da könnte innerhalb Europas das Wahlrecht auch ohne die Staatsangehörigkeit wechseln.

     

    Das Problem ist schwierig, weil es einerseits Menschen gibt, die gern Staatsbürger werden wollen und das nicht dürfen, aber andererseits gibt es welche, die könnten Staatsbürger werden, aber wollen es nicht.

     

    Da würde ich den Unterschied bei Nicht-EU-Staatsangehörigen machen. Wer das Recht erworben hat, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben und das nicht tut, entscheidet sich gegen das Wahlrecht auf Bundesebene. Diejenigen ohne die Option zur deutschen Staatsbürgerschaft sollten aber wählen dürfen, denn jeder Mensch (nicht: Bevölkerer) hat ein Recht auf Repräsentation (in einer repräsentativen Demokratie zumindest). Das ist ja wie beim Frauenwahlrecht sonst.

  • Ich lebe seit meiner Geburt (vor 36 Jahren) hier, und konnte mich nicht einbürgern lassen, weil mein Einkommen zu niedrig ist. Dass ich hier zur Schule gegangen bin, hier studiert habe und keine andere Heimat habe, interessiert das Einbürgerungsamt nicht.

    Es nervt, wie Deutsche immer so tun, als könnte sich jeder einfach so einbürgern lassen. Und es nervt auch, sein ganzes Leben hier verbracht zu haben, aber von allen Wahlen und Volksentscheiden ausgeschlossen zu werden.

  • Hmm... der deutschen Demokratie ist nicht damit geholfen, wenn Erdogan hier über Proxies mitregieren kann.

  • Ich habe diese Position noch nie verstanden, warum sollte man jemandem der, aus welchen auch immer , kein Interesse an der Staatsbürgerschaft hat ein Wahlrecht einräumen.

     

    Was soll daran »demokratischer« sein wenn jemand 2 mal die Möglichkeit zur politischen Meinungsäußerung hat (hier und in seinem "Staasbürgerschaftsland") ich aber nur einmal.

     

    Leider habe ich noch kein überzeugendes Argument dafür gehört außer "wäre doch schön so!"

    • @E. Fahle:

      Weil diese Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft eventuell für einen demokratischen Sozalismus stimmen ?

       

      Deutsche Staatsbürger wählen eher konservativ, die deutsche Arbeiterklasse hat die Solidarität der Linken verspielt, jetzt sind es eben die Menschen die keine deutsche Staatsbürger sind auf denen die Hoffnung aller linksliberalen ruht.

  • "Denn sie leben hier..."

     

    Aber:

     

    "Sie haben keinen deutschen Pass."

     

    Letzteren könnten sie aber leicht haben. Wer sich mit aller Kraft an ein fremdes Land klammert, muss eben dort wählen. Das ist zwar unsinnig, aber die Entscheidung der Betroffenen.