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Lateinamerika-Experte über Venezuela„Radikale Kräfte werden sichtbarer“

Wohin steuert Venezuela? Nach der Gleichschaltung der Gewalten könnte das Land in Gewalt versinken, sagt Günther Maihold.

Dunkelziffer: Unklar ist, wie viele Venezolaner hinter Präsident Maduro stehen Foto: reuters
Ralf Pauli
Interview von Ralf Pauli

taz: Die Verfassunggebende Versammlung spaltet Venezuela. Die Opposition sagt: Sie soll das Parlament auflösen. Präsident Maduro sieht in ihr die einzige Möglichkeit für Frieden. Wie sehen Sie das, Herr Maihold?

Günther Maihold: Zunächst ist das Wahlverfahren für die Verfassunggebende Versammlung sonderbar. Nicht nur, weil es neben territorialen Kandidaten auch Stimmen für „sektorale“ Vertreter gab. Die Listen wurden natürlich durch Leute Maduros besetzt. Die Opposition hatte natürlich kein Interesse daran, ein Verfahren zu legitimieren, das eine deutliche Mehrheit für Regierungsanhänger bedeutet.

Ist Venezuela auf dem Weg in die Diktatur?

Ich würde noch nicht von Diktatur sprechen, sondern von Gleichschaltung. Exekutive und Judikative waren bisher schon weitgehend auf Regierungslinie, nun wird auch nun die Legislative auf Linie gebracht. Das nimmt der Opposition jegliche institutionelle Ausdrucksform. Deshalb lagert sie die politische Auseinandersetzung auf die Straße aus.

Seit April demonstrieren VenezolanerInnen gegen die Regierung. Wie viele von ihnen unterstützen die Opposition?

Wenn wir das wüssten! Es gibt Umfragen, die sagen: 80 Prozent der Bevölkerung sind gegen die Verfassunggebende Versammlung; 77 Prozent wünschen die Ablösung von Maduro. Das entspricht aber nicht notwendigerweise den Tatsachen. Ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung arbeitet im Staatsapparat, den Parteiorganisationen oder den Sozialprogrammen und wird bevorzugt mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt. Es ist schwierig zu sagen, wer die Regierung wirklich unterstützt.

Ähnlich schwer zu beurteilen: Wer ist für die Versorgungskrise verantwortlich? Regierung und Opposition geben sich gegenseitig die Schuld …

Der Hauptfaktor ist sicher die desaströse Einnahmesituation des Landes, für die die abnehmende Ölförderung und der niedrige Ölpreis verantwortlich sind. Hinzu kommt, dass der aufgeblasene Staatsapparat sehr viel der Finanzen auffrisst und Maduro klientelistische Strukturen geschaffen hat. So hat er die Lebensmittelindustrie dem Militär unterstellt und lässt seinen Anhängern über lokale Komitees Lebensmittelpakete zukommen. Das schafft natürlich Bindung an das System.

Bild: Marc Darchinger
Im Interview: Günther Maihold

60, ist stellvertretender ­Di­rek­tor und Lateinamerika-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

Die USA haben Sanktionen angekündigt. Mehrere lateinamerikanische Staaten erkennen die Wahl nicht an. Ist Iso­lation der richtige Schritt?

Natürlich nicht. Es ist sogar Teil des Narrativs der Regierung: Ein Putsch von außen könne nur durch eine einheitliche Front zur Verteidigung des Vaterlandes verhindert werden. Klar ist aber: Wir brauchen externe Akteure, die verhindern, dass die Gewalteskalation in Venezuela weiter voranschreitet. Die internen Akteure spielen alle nur auf Sieg. Da brauchen wir Kuba, die USA und die südamerikanischen Staaten.

Auf die Kritik der Nachbarn im April hat Venezuela den Austritt aus dem amerikanischen Staatenbündnis OAS verkündet. Wie wahrscheinlich ist eine Vermittlung?

Gegenwärtig sind alle Versuche gescheitert, zuletzt die des Vatikan. Kein Player ist von allen Akteuren anerkannt. Das darf aber nicht heißen, dass das Land international isoliert werden darf. Zentral ist, dass die humanitäre Krise im Land nicht vertieft wird.

Falls das nicht gelingt: Läuft es auf einen Bürgerkrieg hinaus?

Wir sehen, dass in der Opposition die radikalen Kräfte sichtbarer werden. Das hat der Einsatz von Sprengstoff am Wochenende gezeigt. Das Maß an Polarisierung und Waffen im Umlauf könnte einen noch weit höheren Blutzoll fordern.

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11 Kommentare

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  • Gleichschaltung, aber keine Diktatur? Etwas verharmlosend finde ich das. Fälschlicherweise wird immer wieder das Stattfinden von Wahlen als einziges Kriterium für Demokratie vermutet. Das ist falsch. Die Gewaltenteilung ist ein wesentliches Element demokratischer Ordnungen. Diese wurde schon vor langer Zeit in Venezuela abgeschafft, was hier verharmlosend als Gleichschaltung bezeichnet wird. Ohne eine unabhängige Justiz ist die Legislative in einem Präsidialsystem macht- und nutzlos, ist der Korruption innerhalb der Exekutive Tür und Tor geöffnet, gibt es keinerlei Garantie mehr für freie und faire Wahlen und niemanden, der die verfassungsmäßige Ordnung überwacht. Die Exekutive ist also Gesetzgeber, Regierung, Staatsmacht, Informationsmedium und Richter in einer Person. Wenn das keine Diktatur ist, weiß ich auch nicht weiter.

    Wo waren in Venezuela die unabhängigen Richter, die die Exekutive darauf hinweisen, dass laut Verfassung eine verfassungsgebende Versammlung nur durch vorherige Volksabstimmung einberufen werden darf? Welcher unabhängige Richter hat darauf hingewiesen, dass die Kandidatenliste einer solchen Versammlung nicht ausschließlich aus regierungstreuen Kandidaten bestehen sollte?

  • Schön mal eine nüchterne Analyse der Situation zu lesen.

  • Rechtsradikale Wirtschaftskräfte werden sichtbarer.

     

    Wirtschaftsdaten geben einen Einblick in den wirtschaftlichen Zustand und in Ableitung davon, in den sozialen Zustand der Gesellschaft. Aber nicht für alle Bürger gleichermaßen. Durchschnittswerte gelten nicht für alle Menschen. Die vorhandene Minderheit der relativ Reichen dürfte um ein vielfaches über den Durchschnittswerten liegen. Zudem nicht gleichermaßen vom Preisverfall und der Inflation betroffen sein. Haben sie doch in den letzten zwei Jahrzehnten für ihre Familienbande Vorsorge mit Devisen und abgesicherten Vermögenswerten im Ausland getroffen.

     

    Die große Mehrheit der Venezuelanischen Bevölkerung liegt deutlich unter den Durchschnittswerten. Wie in allen sozioökonomischen Krisenländern, so bemüht sich auch die noch staatsführende, die politische und soziale Schicht, um die eigene soziale Absicherung und die ihrer staatlichen, militärischen und gesellschaftlichen Basis. Dies führt zwangsläufig zu einer weiteren Reduzierung der Existenzgrundlagen für die Mehrheit der Bevölkerung Venezuelas.

     

    Heute ist es allgemein bekannt, in den zurückliegenden Jahren wurde es versäumt, die industrielle Basis zu entwickeln. Sowohl mangelte es an Investitionen in die technischen Ausrüstungen, aber vor allem auch an moderner Ausbildung und hoher Qualifizierung für nachfolgende und vorhandene Berufsgruppen und Arbeitskräfte. Zeitweilige Einnahmen aus Exportgeschäften mit Rohöl und anderen Rohstoffen, darf man zukünftig, falls sich eine erneute Nachfrage im Außenhandel ergibt, nicht für vorauseilende Sozialprogramme verschleudern. Wichtiger ist auch, auch wenn es schmerzhaft ist für die davon betroffenen Armen, die breite landwirtschaftliche Autarkie und industriellen Grundlagen für weltmarktfähige Waren und Güter zu organisieren und zu realisieren.

     

    Aktuell stellt sich die Frage, ob die Bourgeoisie und vom Ausland organisierte kämpfende Opposition, der Staatsmacht noch die Möglichkeit einer zukünftigen Korrektur gibt.

  • Gleichschaltung, das erinnert doch direkt an die Anfänge Nazideutschlands. Ist auch kein Wunder, denn am radikalen Ende des linken und rechten Spektrums ist ein Unterschied zwischen beiden Lagern an den Mitteln der Wahl nicht mehr zu erkennen.

    • @disenchanted:

      Würden Sie My Lai jetzt eher links oder rechts einordnen?

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Offensichtlich: Weder das Eine noch das Andere. Jeder Krieg der länger dauert führt zu derartigen Massakern, unabhängig davon welcher politischen Fraktion die Regierung angehört, welche die Soldaten losschickt.

        Die Frage ist eher ob solches Verhalten gefördert wird oder nicht. Die US Armee hat sich hier zwar alles andere als vorbildlich verhalten aber derartige Aktionen werden von westlichen Staaten weder befohlen, noch in irgend einer Weise gefördert. Das gleiche lässt sich über Links- und Rechtsextreme Regime nicht sagen.

         

        Was ist mit Ausschwitz, der Einheit 731 des Japanischen Militärs, den Foltergefängnissen der Roten Khmer oder den Gulags in der UdSSR? Halten Sie das ernsthaft für vergleichbar oder warum haben Sie sich ausgerechnet My Lai herausgepickt?

        • @disenchanted:

          "...warum haben Sie sich ausgerechnet My Lai herausgepickt?"

           

          Weil es zeigt, dass sie sogenannte "Mitte" genauso Verbrechen begeht, man man sie lässt. Es gibt dazu noch genug andere Beispiele, aber My Lai fiel mir als erstes ein. Die Auswahl erfolgte rein zufällig.

           

          Ihre Beispiele stammen eher nicht aus der "Mitte".

    • @disenchanted:

      Frage auch an Sie:

       

      Wieviele Kriege hat man mit Billigung und Zustimmung der breiten "Mitte" seit 1945 geführt? (!)

       

      Wieviele nationale, regionale, geopolitische und wirtschaftliche Krisen, Bürgerkriege, politische und militärische Umstürze und Weltwirtschaftskrisen hat der Kapitalismus und Imperialismus der "Mitte" herbeigeführt? (!)

       

      Um die Wirklichkeit der Welt zu erkennen, dafür müssten wir schon mehr als nur die Augen öffnen!

      • 8G
        83379 (Profil gelöscht)
        @Reinhold Schramm:

        wieviele Menschen sind in kommunistischen Arbeitslagern umgekommen oder in Revolutionen umgebracht worden oder schlicht und ergreifend verhungert weil man ihnen das Essen weggenommen hat?

        Krieg ist Teil der menschlichen Natur, aber der Kapitalismus hat diesen Teil weitaus besser gezähmt als alle anderen Ideologien. Weil tote kaufen keine Autos und Ipods...

      • @Reinhold Schramm:

        Die "breite Mitte" hat eine ganze Menge Kriege als angemessen akzeptiert, auch in demokratischen Ländern. Der Unterschied besteht aber vor allem erstmal darin wie 1.) das eigene Volk behandelt wird und 2.) Mit welchem Ziel und mit welchen Auswirkungen diese Kriege geführt wurden.

        Die USA haben seit 1945 so viele Kriegseinsätze gehabt das man sie an zwei Händen nicht mehr abzählen kann, schon klar! Dennoch haben all diese Kriege nur etwa 10% der Menschen das Leben gekostet wie der Nationalsozialismus und nur etwa 6% der Menschen die der Kommunismus das Leben gekostet hat.

         

        Ihre Frage zu den Auswirkungen von "Imperialismus und Kapitalismus" ist schwer bis unmöglich zu beantworten, da Ihre Definition von Kapitalismus vermutlich eine ganz andere ist als die welche Sie im Duden finden würden.

        Eine Großteil der Kritik am Kapitalismus basiert darauf das man vom Sozialismus aus denkt. Dieser deckt aber deutlich mehr Bereiche des Lebens ab als der Kapitalismus. Daher kommt auch die unaufhöhrliche Entrüstung vieler Linker über diesen. Der Sozialismus wird oft mit einer jehen Moral verknüpft. Doof nur das er dieser Moral nicht ein einziges mal gerecht werden konnte. Ein Blick nach Venezuela hilft Ihnen sicher "die Wirklichkeit der Welt zu erkennen"!

        Den Kapitalismus als Idee gibt es erst seit Adam Smith ihn 1776 in "Der Wohlstand der Nationen" definiert hat.. Dennoch werden Hungertote und ähnliches gerne dem Kapitalismus angelastet, als hätte es vor 1776 keine Hungertoten gegeben, oder als sei Kapitalismus ein Synonym für Natur.

         

        Wenn Sie an der Wahrheit interessiert sind dann sollten Sie erstmal aufhöhren sich erstmal von Ideologie verabschieden, vorher wird das nichts.

        • @disenchanted:

          Die geschichtliche Entstehung und Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaftsformation ist kein statischer Prozess. Der Beginn des Kapitalismus lässt sich also nicht auf Daten fixieren. Damit kann man allenfalls seine Abiturprüfung oder seine Zulassung zum Lehramt bestehen, aber historische Entwicklungsprozesse nicht verstehen und auch nicht nachvollziehen.

           

          Was ist also Kapitalismus?

           

          Kapitalismus ist eine ökonomische Gesellschaftsformation, die auf dem privatkapitalistischen Eigentum an den Produktionsmitteln, der privaten Aneignung der Ergebnisse der Produktion und der (differenzierten) Ausbeutung der Lohnarbeiter, Facharbeiter, Angestellten, wissenschaftlichen Mitarbeiter beruht, so wie auch heute immer noch in Deutschland. Kapitalismus ist die letzte geschichtliche Ausbeutergesellschaft, vor ihrer Überwindung, Aufhebung und Beseitigung.

           

          Die beiden sich unversöhnlich gegenüberstehenden Hauptklassen des Kapitalismus sind: die Bourgeoisie (Kapitalisten), die Eigentümer der Produktionsmittel und die ökonomisch, ideologisch und politisch herrschende Klasse ist, und die Arbeiterklasse (Proletariat, - ein nur scheinbar alter Begriff, der aber auch weiterhin nach seinem Wesensinhalt seine geschichtliche und gegenwärtige Berechtigung hat). Die Mehrzahl der heutigen Arbeiterklasse ist juristisch frei von feudaler Abhängigkeit und als Nichteigentümer von Produktionsmitteln muss sie ihre (differenzierte) Arbeitskraft an die Kapitalisten verkaufen.

           

          Auch die große Mehrheit der bundesdeutschen w/m Lohn-, Gehalts- und Vergütungsabhängigen muss ihre beruflich differenzierte Qualifizierung und Arbeitskraft verkaufen, um sozial existieren zu können. Den im Arbeits-, Verwertungs- und Produktionsprozess geschaffenen Mehrwert [der über die Lohn-, Gehalt- und/bzw. Reproduktionskosten hinausgehende Wertanteil] eignen sich die Kapitalisten unentgeltlich an, da ihnen als Eigentümer der Produktionsmittel das Resultat (Produkt) des Produktionsprozesses gehört.

          {...}