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Stadtgestaltung nach Gutsherrenart

Gentrifikation Wie die Immobilienwirtschaft über Handel, Wandel und soziales Leben bestimmt

von Gabriele Goettle

Helga Herold, Antiquarin. Geboren in Stendal/Altmark. Nach d. Flucht d. Mutter mit d. Kindern aus d. DDR i. d. BRD, aufgewachsen in Dorsten/Ruhrgebiet. Mit neun Jahren Umzug in ein Dorf nach Süddeutschland, Eltern und sieben Kinder leben in einer 65 qm großen Wohnung. Schlechte soziale Bedingungen für Flüchtlinge, zumal f. kinderreiche Familien. Hat das 9. Schuljahr gemacht und wurde, auf Anweisung d. Vaters, Datentypistin, d. h. 8 Std. täglich tippen ohne weitere Ausbildung. Da sie noch nicht volljährig war, zog d. Vater ihren Lohn ein. Mit 17 Flucht von zu Hause. Lebte in Reutlingen, Heirat und ein erstes Kind mit 20, ein zweites mit 22. Mit 25 Trennung, Schwierige finanzielle Situation allein mit 2 Kindern. 1985 Übersiedelung nach Westberlin. Halbtagsjob u. Arbeitslosigkeit. Nach d. Wende Verkauf ihrer Bücher auf d. Büchermarkt am Kupfergraben (Museumsinsel in Ostberlin). Lernte Ulrich Enzensberger kennen. Beginn mit Bücherankauf am Kupfergraben, allmählicher Einstieg i. d. Buchhandel. Sie lernt Harald Jeske kennen (1952 geb.,studierte Soziologie a. d. FU Berlin), ihren jetzigen Lebensgefährten und wagt es, ein Antiquariat zu eröffnen. Im Januar 1997 mietete sie den Laden in der Hagelberger Straße 15, es wurde ein ordentliches Gewerbe angemeldet. Seitdem betreibt sie hier ein sehr schönes, geräumiges Antiquariat, das einen guten Ruf hat unter Sammlern und Normalkunden. Am 16. 2. 2017 erhielt sie vollkommen überraschend d. Kündigung zum 31. 10. 2017. Frau Herold wurde 1954 geboren, der Vater war sein Leben lang auf d. Bau als Fliesenleger, er wird 90, die Mutter ist schon verstorben, sie war Hausfrau in einem Neunpersonenhaushalt.

Das Antiquariat von Frau Herold ist ein Eckladen und befindet sich in der Hagelberger, Ecke Großbeerenstraße in einem der stuckbereinigten Altbauten. In diesem Teil Kreuzbergs ist es eher still, die Touristen flanieren nicht mehr dicht an dicht, wie jenseits des Mehringdamms. Wenn sie zum Viktoriapark mit dem 60 Meter hohen Kreuzberg und seinem künstlichen Wasserfall herüberspazieren von der Bergmannstraße, dann nehmen die meisten den direkten Weg und der führt nicht am Antiquariat vorbei. Wenn aber doch, dann sticht es ins Auge. Das Eckgeschäft mit den drei großen Schaufenstern und den roten Markisen gibt der gesamten Umgebung noch ein gewisses Flair. Doch bald wird auch das verschwunden sein.

Wir haben uns an einem Sonntagvormittag verabredet, Helga Herold schließt auf und bittet uns in ihren respekteinflößenden Verkaufsraum, der angenehm nach Papier riecht. Er wird dominiert von einem gut gefüllten, umlaufenden, deckenhohen Gründerzeit-Eichenholzregal. Es ist reich verzierten mit Gedrechseltem und Schnitzereien, mit Karyatiden und dem einen und anderen kleinen Atlas. Es hat verglaste Schübe und Schubladen, herausziehbare Abstellflächen und Trittbretter, um bei Bedarf an den oberen Teil heranzukommen, ohne störende Leiter. Dieses Regal repräsentierte einst das Selbstbewusstsein eines Kolonialwarenhändlers der Gründerzeit, er war zugleich Ladeninhaber und Hausbesitzer. Wo einst Kolonialwaren aller Art lagen, steht nun ebenfalls eine dem Untergang geweihte Ware: Bücher fast aller Sachgebiete, darunter – auch aus der Entstehungszeit der sozialen Frage – Philosophie, Geschichte, politische Literatur der 68er, viel zu Kunst, Architektur, Literatur. In den Fächern der Regale ruht Gelesenes und teilweise längst Vergessenes. Der Jagdtrieb erwacht, aber zum Stöbern ist keine Zeit.

Wir nehmen Platz inmitten der Bücher, ich lege meine Utensilien auf einen Band über Surrealismus, Frau Herold reicht Getränke und sagt, dass ihr Freund Harald Jeske etwas später kommen wird, wir aber ruhig schon anfangen können. Wir bitten sie, zu erzählen:

Frau Herold blickt sich bedauernd um und sagt: „Wir müssen hier raus. Nach so langer Zeit. Als ich damals den Laden nach reiflicher Überlegung gemietet habe, war der Eigentümer bereits todkrank, das war ein bisschen unser Glück, denn ich sagte, wir können nicht viel zahlen und er meinte auf Berlinerisch: „Na denn zahlt mal 700 Mark.‘ Der Vormieter wäre für das Geld gern drin geblieben, er sollte 1.600 Mark zahlen und ist ausgezogen. Und damit kommen wir auch gleich zur allmählichen Umwandlung der Gegend, ein paar Jahre nach der Wende. Damals kam der Umschwung, da zogen hier viele Leute weg und es gab eine Menge Leerstand und die Hauseigentümer warteten in aller Ruhe auf die solventen Mieter.

Die Gegend machte aber immer noch den Eindruck, dass sie eine ‚gute Wohngegend‘ ist. Allerdings gab es Zahlen, die was anderes verraten haben: 30 % Arbeitslose, viele Akademiker ohne Job, die wohnten zwar noch in schönen großen Wohnungen, konnten sie sie sich aber plötzlich nicht mehr leisten. Das war mein lesebegeistertes Publikum, nicht so sehr meine Kundschaft, weil sie ja gar kein Geld hatten für Bücher. So mancher hat sich Bücher zurücklegen lassen, weil sein Budget grade nicht reichte. Deshalb sind wir auch nie so richtig hochgekommen. Allerdings Harald sagt immer, dass ich damals mit weniger Büchern den gleichen Umsatz gemacht habe wie heute. Es lag daran, dass in ‚Riemers Hofgarten‘ noch viele Künstler wohnten, die waren ein bisschen besser gestellt und kauften bei uns. Aber viele Wissenschaftler die an der Uni gearbeitet haben, sind aufs Land gezogen. Das hatte Folgen.

Hier war z. B. an der Ecke eine Buchhandlung, der ‚Krakeeler‘, ein ganz bekannter, der Mann war so frustriert und verbittert, dass er zugemacht hat. Die Reste haben wir dann übernommen. Das schildert so ein wenig die Situation in ihrem Anfangsstadium. Inzwischen hat sich das alles ja extrem verschärft. Bei mir ging es dann so weiter: Der Hausbesitzer ist gestorben und hat das Haus einer Erbengemeinschaft hinterlassen, die haben mir die hinteren Räume angeboten und die Miete dann verdoppelt. Ich brauchte die Räume aber als Lagerraum und habe akzeptiert. Aber sie haben uns leben lassen, muss man sagen, und nicht mehr erhöht. Sie wollten verkaufen, hatten annonciert. Wir haben lange nachgedacht, ob man vielleicht hier als Hausgemeinschaft … aber wir hatten ja alle kein Geld und keine Rücklagen, und einen Kredit hätten wir auch nicht bekommen. Es hat dann jemand gekauft, der schon Häuser hatte, angeblich sind’s sechzig, der Lohmüller. Das war 2003 oder so. Er ist auch heute noch der Eigentümer.

Wo einst Kolonial­waren aller Art lagen, steht nun ebenfalls eine dem Untergang geweihte Ware: Bücher

Im Grunde können wir nichts Negatives über ihn sagen das Mietverhältnis betreffend. Er hat sich nicht weiter gekümmert, uns in Ruhe gelassen, ab und zu kam er vorbei, fuhr mit einem dicken Auto der Luxusklasse vor und war so ein bisschen bohememäßig, Oscar-Wilde-artig gekleidet, hat ein paar Bücher gekauft und zu Harald sogar gesagt: ‚Bleib du mal drin!‘ Wir bekamen neue Fenster, Türen und die elektrischen Markisen – vorher hatten wir welche zum Rausziehen. Hat nie die Miete erhöht. Und dann kam der Brief mit der Kündigung. Plötzlich dieser Gesinnungswandel! Das hat uns vollkommen umgehauen. Aber da ist nichts mehr zu machen, wir müssen raus …“

Harald kommt, setzt sich zu uns und sagt: „Es ist immer noch ein Schock. Mit den Einkünften hier kamen wir grade hin, aber so eine Mieterhöhung können wir nicht erwirtschaften. Das alles wurde hier 20 Jahre lang systematisch aufgebaut, das Buchangebot ständig verbessert. Es ist Helgas Errungenschaft, sie kennt sich unheimlich gut aus mit Büchern. Sie hat Schwerpunkte gesetzt, Architektur, wegen der Kunden in Riemers Hofgarten und Kunst natürlich.“ Helga sagt: „Schon, aber die Kundschaft hat sich gewandelt. Kaum jemand möchte mehr Bücher kaufen, schon gar nicht die der 68er Generation. Die MEW (Marx-Engels-Werke) geht nicht und die MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe) steht schon ewig da oben im Regal.“ Harald entgegnet: „An der FU machen sie schon wieder Kapital-Schulungen …“ Helga: „Harald glaubt fest da dran und sammelt. Lektüre der 68er haben wir massenweise von Haralds Freunden und ehemaligen Studienkollegen!“ Harald sagt bitter lächelnd: „Ja, alles, was wir uns damals kaum leisten konnten. Ich denke noch manchmal dran, man ging in den Buchladen am Savignyplatz, hatte ein Buch in der Hand, hat es stehend gelesen und es wieder hingestellt. Ich hab nie Bücher geklaut! Das war ja üblich, damals.“

Helga sagt entschieden: „Was hier den Laden betrifft, da ist es so: Auch wenn der Umsatz nicht so hoch war, unser beider ‚Gewinn‘ war auch die gute Beziehung zu den Kunden. Da haben sich Freundschaften entwickelt, es gab interessante Gespräche, wir wurden sogar mal nach Chemnitz über Nacht eingeladen, ein Malik-Sammler. Das Antiquariat hat sich weiterentwickelt, hat aber den Umsatz nie erhöhen können.“ Harald sagt: „Aber vergiss nicht, wir hatten auch Glück. Das große Glück, auf das jeder Antiquar sein Leben lang wartet. Ich erzähle euch die Geschichte: Eines Tages kam ein alter Mann rein, über 80 und fragte wie nebenbei: ‚Möchten Sie eine Voltaire-Ausgabe?‘ Ich sagte: ‚Unbedingt!‘ Und ich bekam sie, erschwinglich!“

Harald geht und holt einen der 70 Bände, nimmt das Oktavheft andächtig aus dem wunderschönen Schuber, zeigt uns das blütenweiße Papier, die Prägung der Bakerville-Schrifttype. Ein Vergnügen für die Augen, die Sinne. Harald: „ Die sind alle noch im Original, schon aufgeschnitten, aber unbeschnitten, so, wie sie beim Verleger im Lager waren. Also das ist die berühmte ‚Kehler Ausgabe‘.“ (Oeuvres complètes de Voltaire, 70 Bände, herausgegeben von P. de la Beaumarchais, Kehl 1785–1789, 20.000 Exemplare. Auch digital im Internet http://digital.bibliothek.unihalle.de/hd/content/titleinfo/728993 Anm. G.G.)

Harald erklärt: „Meine hier ist auf fünferlei Papier gedruckt. Wegen der Zensur in Frankreich wurde mit Erlaubnis von Karl Friedrich von Baden-Durlach in Kehl gedruckt und auch die Drucktypen gegossen. Danach ist alles dann in irgendwelchen Kellern in Paris verschwunden und wurde z. T. abgefackelt. Wo der alte Mann die herhatte, das weiß ich nicht, aber er kam aus so einer begüterten Familie und hatte eine schöne Bibliothek.“ Helga sagt: „Harald liebt die Bände so, die will er nicht weggeben!“ Harald protestiert ein wenig: „ Ne, ne, ich möchte nur, dass sie in gute Hände kommt!“

Die Spekulation fing an Platz zu greifen

Harald schließt den Schuber und legt den Band zur Seite. „Wir sind jetzt etwas abgeschweift“, sagt Helga. Harald denkt kurz nach und sagt: „Also zu unserer Geschichte möchte ich noch sagen: Wir haben damals zwar gemerkt, irgendwas tut sich, schleichend, wir konnten es aber noch nicht so recht festmachen, dass es die Spekulation ist, die angefangen hatte Platz zu greifen. Das fing an in den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende. Viele Wohnungen wurden entmietet, viele umgewandelt in Eigentumswohnungen. Plötzlich kamen viele Leute her, die hier nicht leben, sondern nur Wochenend- und Ferienwohnungen haben. Am Anfang hat sich das für uns positiv niedergeschlagen, denn die mussten sich ja einrichten, haben sich eben auch eine Reihe von Büchern hingestellt, damit es repräsentativ wirkt, wenn Besuch kommt. Aber die Gegend wurde gleichzeitig immer ruhiger, kaum noch Bewegung im Kiez, die totale Verödung. Manchmal im Winter, da saß ich immer nur da und keiner kam rein. Ich habe viel gelesen in dieser Zeit. “

Helga: „Das Interesse an Büchern lässt eindeutig nach, jedenfalls am antiquarischen Buch. Es gibt kaum noch Sammler oder sie sind alt und sagen: ich hab mein Leben lang gesammelt, alles was mal Ausdruck von erlesenem Geschmack war, von geistigen Interessen, meine Kinder interessieren sich leider gar nicht dafür.“ Harald: „Ja, aber es gibt auch noch einen anderen Grund. Die Zahl der Antiquare hat stark zugenommen, weil der Druck auf den Arbeitsmarkt – gerade bei den Intellektuellen, also unseren Hauptkunden – war so groß, dass viele den Weg in den Buchhandel gewählt haben. Aber inzwischen ist das auch keine Lösung mehr. Viele müssen nebenher noch arbeiten gehen, um überhaupt ihren Laden noch halten und existieren zu können.“

Helga erklärt: „Wir dachten natürlich, wir könnten das auffangen mit dem Internet, das war aber ein Irrtum. Gerade der Internethandel mit Büchern hat dazu geführt, dass die Preise jetzt so bei 10 Cent liegen. Vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels gab es im Juni 2017 einen guten Text über MOMOX. Also da wird das in aller Brutalität deutlich gesagt, das Buch selbst interessiert überhaupt nicht. Sie verkaufen soundsovieltausend Bücher im Monat, nur solche mit ISBN-Nummer übrigens, und sie haben einen internen Algorithmus für ihre Preisgestaltung. Wenn ich ein Buch für 7,50 € einstelle ins Internet, dann hat er sofort seins auf 6,50 € reduziert, und wenn ich weiter runter gehe, dann senkt er auch und geht quasi bis auf 10 Cent.“ Harald ruft ärgerlich: „Automatisch!“

Seelenlose Onlinebestellung

Helga nickt und sagt: „Dadurch ist nichts mehr kalkulierbar. Ich habe Bücher für 80 € im ZVAB“. (Zentrales Verzeichnis antiquarischer Bücher und Online-Antiquariat, inzwischen, ebenso wie AbeBooks, von Amazon aufgekauft. Anm. G.G.) „Die haben ihren Wert, aber sie stellen die für 1,99€ auf Amazon. Das Ergebnis ist natürlich, unsere Kunden finden uns teuer. Wir gucken bei Amazon nach, was wir z. B. für ein Buch von Joseph Roth nehmen können, das muss man sich mal vorstellen!!! Früher waren das sagen wir mal 15 €, heute müssen wir runtergehen auf 5 €. Wenn 20 Verkäufer vor mir billiger sind im Internet, dann habe ich gar keine Chance, das Buch jemals zu verkaufen! Sie nehmen mir 25 % vom Umsatz weg! Manchmal allerdings kommen auch Leute hier vorbei, weil sie im Internet nachgeschaut haben, wo sie das Buch finden – es gibt ja über 200 Antiquariate in Berlin, noch – und da freuen wir uns natürlich, wenn sie zu uns kommen. Hier können sie das Buch angucken, in der Hand halten, drin lesen, das ist etwas ganz anderes als eine seelenlose Onlinebestellung.“

Harald sagt: „Ich wollte aber doch noch mal zurückkommen auf den Wegzug vieler Leute hier aus der Umgebung, als Reaktion auf die Immobilienspekulation. Wir haben ein sehr gutes Beispiel, Riemers Hofgarten. Hier das gesamte Karree gehört zu Riemers Hofgarten – wir gehören nicht mehr dazu, wir sind das Eckhaus. Das Ensemble war sozusagen ein Gegenentwurf zur Mietskaserne. Berlin war ja die größte Mietskasernenstadt der Welt, und das verdankte sie dem ‚Hobrecht-Plan‘. James Hobrecht hatte Mitte des 19. Jh. seinen Stadtbebauungsplan realisiert und dabei versucht, an das Pariser Vorbild von Hauss­mann anzuknüpfen, hat umfangreiche Straßenblöcke von bis zu 400 m Breite und 200 m Tiefe erbauen lassen, dazwischen breite Magistralen.

Er war ein Mann der Polizei und wollte, dass alles breit und übersichtlich ist, damit bei Bedarf Polizei und Armee ungehindert vorrücken können gegen Erhebungen. Und aus Gründen der Profitsteigerung wurden die Hinterhöfe auch noch bebaut – oft mehrere, für die Wohnungen der Unterschicht und fürs Gewerbe. Das war das Übliche. Und dann kam der Maurermeister Riemer 1881, er hatte nicht nur Geld, er hatte auch so eine bürgerliche Vision. Sein großes Grundstück ließ er vollkommen anders bebauen, die Häuser haben nicht nur vorne, sondern auch nach hinten raus prachtvolle Stuckfassaden, es gibt grüne Innenhöfe, die Privatstraße. Eine städtische Idylle mit einem Eingangstor wie ein Triumphbogen. Bis zum heutigen Tag stark begehrt. Heute bekommt man dort luxussanierte Wohnungen zu kaufen oder voll eingerichtete Ferienappartements zur Miete. Dafür mussten, wie schon erwähnt, viele der alten Bewohner weichen. Das gesamte Ensemble wurde übrigens, da denkmalgeschützt, in den 80er Jahren mit öffentlichen Mitteln saniert, der Profit floss in die privaten Taschen. Man kann sagen: Wir haben heute nicht mehr die Zeit der Architekten, sondern der Immobilienspekulanten, sie gestalten unsere Stadt und unser Leben.

Ab und zu fuhr er mit einem dicken Auto der Luxusklasse vor und hat ein paar Bücher gekauft

Der damalige Eigentümer wollte baulich verdichten, um noch mehr heraus zu holen. Als der Denkmalschutz ablehnte, hat er kurzerhand verkauft. Iren haben das dann erworben, Farmer, die hatten von Immobilien keine Ahnung, sie wollten nur ein profitables Anlageprodukt. Haben z.T. Leute aus ihren Verträgen raus gekauft und fingen an, Luxusverträge zu machen. Sie haben mit Babelsberg zusammen gearbeitet und versucht, hier Filmschaffende rein zu kriegen und auch Künstler. Ein Kameramann hat uns mal erzählt, er hat da eine Riesenwohnung, ist aber nur zwei Stunden da. Immer mehr wurde entmietet, unheimlich viele Wohnungen und auch Läden. Dadurch wurden die Straßen immer leerer. Das war alles in den letzten 10 bis 15 Jahren. Und es geht immer weiter, jetzt zum Jahresende soll ja in der Yorckstraße das Hotel Riemers Hofgarten raus und das Lokal E. T. A. Hoffmann. Und auch in den Gewerbehöfen, die alte Milchanstalt, die wird gerade saniert und spekulativ hochpreisig verkauft. Hier, gegenüber an der Ecke, gab es früher eine Apotheke, die war sehr gut besucht, besonders auch von alten Leuten. Heute ist irgendein Büro drin. Das ist so in etwa die Lage und nun hat es auch uns erwischt.“

Helga zeigt auf die Bücher, die sich unter unseren Augen plötzlich in bedrückenden Ballast verwandeln und sagt: „Wir haben schon viel geräumt, wir müssen ja Ende Oktober raus und bis dahin muss ich verkaufen. Ich bin immer noch geschockt von diesem Brief, von dieser Tatsache.“ Harald sagt: „Hol ihn doch mal!“ Helga: “Ja wo ist er denn?“ Harald: „Weiß ich doch nicht!“ Helga geht in die Nebenräume, kommt mit dem Brief zurück

Und liest vor: „Also er ist vom 26. 2. 2017. ‚Sehr geehrte Frau Herold, hiermit kündige ich den Gewerbemietvertrag vom 1. 11. 2002 zum 31. 10. 2017. (…) Die Miete rührt ja noch aus dem vorigen Jahrhundert und wie Sie mir sagten, verkaufen Sie ja das meiste über das Internet, so dass Sie den Laden nicht zwingend brauchen. Eine doppelt so hohe Miete ist Ihnen ja sicherlich nicht zuzumuten; nehmen Sie bitte alles aus dem Laden raus, außer die antike Verkaufstheke und Einbauschrank, wie im Mietvertrag (…)‘ Also danach hatten wir erst mal zwei Wochen damit zu kämpfen. Es ist ja was anderes, ob du selbst aufgibst, irgendwann, oder ob dir jemand die Verantwortung aus der Hand reißt und entscheidet, so, jetzt ist Schluss hier! Ich – wir beide – haben eigentlich immer so eine Art selbstbestimmtes Leben geführt und jetzt das – total von außen aufgesetzt! “

Es gab Wodka und Sonnenblumenkerne

Harald sagt: „Ja. Zwanzig Jahre, das ist ein Teil des Lebens. Und hier wurden ja nicht nur Bücher verkauft, wir haben auch Kultur gemacht, wir haben mit einer Galerie zusammengearbeitet, haben Lesungen gemacht, es kamen gute Leute. Wir hatten Stühle für 30 Personen. Heute wäre dafür gar kein Platz mehr.“ Helga ergänzt: „Wir haben hier mal russische Filme gezeigt … Meine besondere Liebe gilt ja den Russen. Und wir hatten sogar einen Daniil-Charms-Abend, es wurde ein Stück vorgeführt. Einer spielte auf einem Knopfakkordeon, es gab Wodka und Sonnenblumenkerne, die Schalen wurden auf den Boden gespuckt. Charms ist ein besonderer Liebling von mir.“ Harald: „Ach, wir haben viele Abende gemacht, schöne Abende, aber es hat nichts gefruchtet. Die Leute sind gekommen, haben konsumiert und kamen nie wieder. Da haben wir das dann frustriert allmählich einschlafen lassen. Aber ich sollte vielleicht noch etwas zum Regal sagen?“

Das Regal steht ja unter Denkmalschutz, und jeder, der hier einzieht, muss es lassen, wo es ist. So auch der Metzger, der Bäcker, Edeka, das Elektrogeschäft

Helga bedauernd: „Es wird uns fehlen. Harald kann das sehr gut erzählen, er hat sich auch mit der Kiezgeschichte beschäftigt, und er hat wunderbare Fotos vom Laden. Der Sohn vom früheren Laden- und Hauseigentümer Ernst Rank kam mal hier vorbei mit Leuten und wollte denen zeigen, wo er groß geworden ist, da hat ihn Harald gefragt, ob er vielleicht noch Fotos hat aus der Zeit, er sagte, er hat keine, aber sein Bruder hat welche. Und der Bruder kam dann eines Tages, hat uns Fotos gezeigt vom Haus, vom Inneren des Ladens, er hatte irgendwie Abzüge machen lassen und uns die gegeben. Er hat uns auch Geschichten erzählt, wie es damals hier war. Dort drüben, wo jetzt die Theke ist, war die Treppe in den Keller runter. Ich habe gestaunt, da haben 16 Leute gearbeitet in diesem Geschäft, das lag aber daran, dass ein Teil von ihnen die Waren austragen musste zu den Kunden.“

Das Haus wurde 1880 gebaut

Harald sagt: „Ich zeige euch die Bilder nachher, wenn wir fertig sind. Also das Haus ist 1880 gebaut, um 1900 haben sie es umgebaut und da kam der Kolonialwarenladen rein mit dem maßangefertigten Regal. Durch die Offizierswohnungen hier haben die ein sehr gutes Geschäft gemacht. Ganz in der Nähe war der Exerzierplatz am Tempelhofer Feld. Es gibt eine Kneipe, die heißt noch immer ‚Kaiserstein‘, weil der Kaiser bis dahin mit der Kutsche fuhr und da, an der Ecke Mehringdamm/Kreuzbergstraße, ist er aufgestiegen auf sein Pferd, mit Hilfe des Steines, um zum Exerzierplatz zu reiten. Später, so um 1925 machte die Familie Ernst Rank – von der ich die Fotos bekommen habe – hier drin ein ‚Delikatessen-, Kaffee- und Zuckergeschäft‘ auf, und Kolonialwaren hatten sie auch im Angebot und in diesem Regal. Es steht ja unter Denkmalschutz, und jeder, der hier einzieht, muss es lassen, wo es ist. So auch der Metzger, der Bäcker, Edeka, das Elektrogeschäft bis hin zu uns. Also für uns war es ein wunderbares Bücherregal, und wir hängen einfach auch an dem Laden, denn er ist ja wirklich sehr schön und war unser Zuhause.“

Helga will zum Eigentlichen kommen: „Ja, aber das ist jetzt eben vorbei. Bedrückend ist, dass wir keine Räume finden, um unsere Bücher zu lagern, wir waren schon im Umland. Mir gefällt es auf dem Land, aber Harald will lieber in der Stadt bleiben. Nur, die Wahl haben wir gar nicht. Es ist längst alles aufgekauft auf dem Land, da sind wir jetzt einfach wieder mal zu spät und wissen nicht, wo wir unterkommen können. Vielleicht, wenn ihr zufällig was wisst oder hört? Etwas, das günstig wäre, trocken und passend für uns, sagt Bescheid. Und das andere Problem ist, dass ich alle Bücher im Internet stehen habe und wir hier keinen totalen Abverkauf machen wollen, aber dennoch reduzieren müssen. Also unsere Hauptarbeit besteht jetzt im Sortieren. Und dann sehen wir halt, was wir jetzt hier im Laden noch verkaufen können, und hoffen, dass viele Interessenten und viele unserer alten Kunden kommen. Nur, wir können’s natürlich nicht verschleudern.“ Harald: „Wir machen es einfach so, wir gehen auf den jeweiligen Menschen ein, und wenn wir sehen, der hat nicht viel, dann sind wir eben kulant.“ Helga: „Es ist alles verhandelbar.“ Harald seufzt: „Wir haben jetzt eine harte Zeit vor der Brust, bis wir das alles abgewickelt haben …“

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