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Von Zerstörung, Schuld und Gefahr

GESCHICHTSBILD Der verstorbene Altkanzler war geprägt von den Erfahrungen der NS-Zeit. Sie waren die Grundlagen der Ambivalenz des christdemokratischen Politikers

Von Stefan Reinecke

BERLIN taz | Wenn er über Geschichte redete, war Helmut Kohl uns peinlich. Er posierte mit Reagan in Bitburg, wo auch Waffen-SS-Mitglieder begraben waren. Er verglich Gorbatschow mit Goebbels und rühmte sich in Israel der „Gnade der späten Geburt“, als wäre es ein Orden.

Auch was Kohl persönlich über die NS-Zeit sagte, klang wie Ausrede. 1984 erklärte er, „eine wirklich gelebte Familie“ sei „ein Bollwerk gegen jede totalitäre Entwicklung des Staates“, und meinte sein Elternhaus. Solche Parolen klangen für uns, mit der Gnade noch späterer Geburt und mitunter mit abwaschbarer antifaschistischer Gratismoral ausgerüstet, ungeschickt, linkisch und dümmlich. Alles Entlastungsmanöver. Der Mann, ein plumper Machttechniker, war zum Fremdschämen.

Kohls Elternhaus war, typisch für Katholiken, skeptisch gegen­über den Nazis – aber keine Trutzburg des Antifaschismus. Der Vater war Offizier im Ersten Weltkrieg gewesen, die Familie stolz, als die Wehrmacht 1940 halb Europa überrollte. Das verging rasch. 1940 kehrte der Vater aus Polen zurück und sagte: „Wenn wir büßen müssen, was wir dort anrichten, haben wir nie mehr etwas zu lachen.“ Seit 1943 zählten Bombenangriffe, Lebensgefahr und Kinderlandverschickung zum Alltag. Eine dramatische Einkerbung war der Tod des älteren Bruders Walter Ende 1944. Der Vater hatte ihn zur militärischen Karriere gedrängt und versank danach in Schuld und Schweigen.

Helmut Kohl, ein Vitalitätsbolzen schon damals, brachte es in der Hitlerjugend (HJ) zum Jungenschaftsführer. Am 20. April 1945, Hitlers Geburtstag, wird er in HJ-Uniform im NS-Wehrertüchtigungslager in Berchtesgaden auf den Führer vereidigt. Der 15-Jährige soll die Flak bedienen lernen, um im Endkampf die Alpenfestung der Nazis zu verteidigen. Einen Tag bevor Deutschland endlich kapituliert, am 7. Mai, macht sich Kohl zu Fuß auf den Weg nach Hause in die Pfalz.

Das Szenario hat etwas Albtraumhaftes. Er sieht von der SS gehängte Wehrmachtsoldaten, die an Bäumen baumeln, durchquert Ruinen, wo Städte waren. Bei Augsburg verprügeln polnische Zwangsarbeiter, die endlich frei sind, Kohl und seine Jungvolk-Freunde, die noch immer in Braunhemden unterwegs sind.

Man mag spekulieren, dass Kohls Zögern 1990, die deutsche Ost- und die polnische Westgrenze anzuerkennen, ein Nachhall dieser Begegnung war. Da war viel Tod, Schuld, Gefahr, zu viel für einen 15-Jährigen. Mag sein, dass die Erfahrung von Chaos, Zerstörung, Bedrohung das Bulldozerhafte des Politikers Kohl katalysierte.

Der Historiker Hans-Peter Schwarz, der – ein seltsamer dramatischer Zufall – ein paar Tage vor dem Altkanzler starb, hat eine kundige, dem Exkanzler gewogene Biografie verfasst und dabei die Prägungen durch die NS-Zeit herauspräpariert. Kohl hat – wie die Generation Bundesrepublik – aus dem Desaster, das die Väter angerichtet hatten, jene Konsequenzen gezogen, die zur Raison d’être der Republik wurden. Bindung an den Westen, Aussöhnung mit Frankreich, das Postnationale, eine skeptische Haltung gegenüber Krieg, und vor allem – ein geeintes Europa.

Das Szenario hat etwas Albtraum­haftes. Kohl sieht von der SS gehängte Wehrmachtsoldaten, die an Bäumen baumeln, durchquert Ruinen, wo Städte waren

Einem französischen Journalisten erklärte Kohl in der Spätphase seiner Kanzlerschaft, warum er die europäische Einigung so dringend wolle. Er habe seiner Mutter versprochen, dass sein Sohn (der den gleichen Namen wie sein gefallener Bruder trägt) „nicht in einem Krieg zwischen europäischen Staaten sterben wird“. Man kann das sentimental, zuckrig, typisch für jene schwer erträgliche Selbstbezüglichkeit von Kohl halten. Aber es spiegelt doch eine generationelle Erfahrung wider.

Schwarz hat zu Recht bemerkt, dass unter den Selbstverständigungsformeln der Generation Kohl, dass „moderner Krieg die Hölle und vor allem der Nationalismus des Teufels ist“ andere, verwischte Schriftzeichen verborgen sind. „Reibt man kräftig, dann entdeckt man Zeilen, fast unlesbar verlöscht, in denen sich die einstmals so strahlenden Worte ‚Deutschland‘, ‚das Reich‘, ‚Volksgemeinschaft‘ oder ‚Wehrmacht‘ immer noch ausmachen lassen“, so der Historiker. Dieses Doppelte spiegelte sich bei Kohl in einer bösartigen Verachtung für den Pazifismus – und gleichzeitig einer tiefsitzenden Zivilität, die sich aus finsteren Erinnerung an Bombennächte, den toten Bruder, den schuldigen Vater und Übungen an der Flak in der Alpenfestung speiste.

Das Sensorium, über das Schwarz, vier Jahre jünger als Kohl, verfügte, hatten die politische Linke und die Post-68er eher nicht. Wir sahen nur die Hülle, die Birne, das Dümmliche, Tumbe, Arrogante und hielten das Bekenntnis zu Europa für Tünche. Dabei war es biografische Gravur.

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