Hunderttausende gegen Straferlass

Argentinien Parlament hebt ein kontroverses Urteil des Obersten Gerichts zu Diktaturverbrechen auf

Weiße Tücher wehen auf der Plaza de Mayo Foto: Martin Acosta/reuters

aus Buenos Aires Jürgen Vogt

„An die Herren Richter: Nie wieder. Wer des Völkermords schuldig ist, darf nicht frei sein.“ Mit dieser Forderung protestierten am Mittwochabend mehrere hunderttausend Menschen auf der Plaza de Mayo im Zentrum der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. Sie wandten sich gegen ein Urteil des Obersten Gerichtshofs, das einem wegen Verbrechen während der Militärdiktatur Verurteilten Strafnachlass einräumte. Menschenrechtsgruppen und linke Parteien hatten zu dem Protest aufgerufen.

Eine Woche zuvor hatten die fünf höchsten Richter mit drei zu zwei Stimmen für die Anwendung des sogenannten „Dos-por-Uno-Gesetzes“ bei Menschenrechtsverbrechen gestimmt. Zwei der zustimmenden Richter waren 2016 auf Vorschlag von Präsident Mauricio Macri neu eingesetzt worden, Macri wolle die juristische Aufarbeitung der Diktaturverbrechen von 1976 bis 1983 unterlaufen, so der Vorwurf. Für diese Verbrechen sitzen in Argentinien 2.000 Menschen in Haft. Viele hofften nun auf Straferlass.

Das landläufig als Dos-por-Uno titulierte Gesetz war von 1994 bis 2001 in Kraft und sollte der lahmenden Justiz Beine machen. Wer länger als zwei Jahre ohne rechtskräftiges Urteil in Untersuchungshaft saß, dem wurden die ersten beiden Jahre einfach und die folgende Zeit bis zur Verurteilung doppelt auf die Haftstrafe angerechnet.

Wie kontrovers das Urteil des Obersten Gerichts war, zeigte sich in der raschen Reaktion des Kongresses. Die Demonstranten hatten sich noch nicht versammelt, da verabschiedeten die Parlamentarier in einer Eilsitzung ein Gesetz, das den Richterspruch außer Kraft setzte. Das Dos-por-Uno-Gesetz sei „nicht anwendbar bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Kriegsverbrechen“, und es gelte „nur für jene Fälle, bei denen der Verurteilte während der Gültigkeit des Gesetzes in Untersuchungshaft saß“.

Das „Dos-por-Uno-Gesetz“ gelte nicht bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Das Gesetz sei für die Justiz verbindlich, es sei die „authentische Interpretation“ des Dos-por-Uno-Gesetzes und auf alle laufenden Verfahren anzuwenden. Das Abgeordnetenhaus stimmte am Dienstag mit nur einer Gegenstimme zu, der Senat votierte einstimmig dafür. „Die rechtliche Lücke, die dieses unglückliche Urteil hinterlassen hat, ist vom Kongress beseitigt“, kommentierte Präsident Mauricio Macri.

Auf der Plaza de Mayo wurde jedoch Wachsamkeit auf die Fahnen geschrieben. „Wenn das Urteil ein Versuchsballon war, dann ist er diesmal wie eine Seifenblase geplatzt. Aber wir müssen aufpassen, ob Regierung und Justiz nicht noch weitere aufsteigen lassen“, warnte Mirtha Ramírez, eine Hausfrau aus dem Vorort San Miguel.

Im Urteil des Obersten Gerichts ging es um den Fall des heute 61-jährigen Luis Muiña, der 1976 im Hospital Posadas agiert hatte. Die Militärs hatten auf dem weitläufigen Krankenhausgelände unmittelbar nach dem Putsch ein geheimes Gefangenen- und Folterlager eingerichtet. Muiña war 2011 wegen Entführung und Folter zu einer Haftstrafe von 13 Jahren verurteilt worden.