Für immer Heimweh
Hufelandstraße In der DDR war die „Hufe“ einst ein toter Winkel, wo verschiedenste Milieus in Ruhe zusammen leben konnten. Nach der Wende wurde durchgeputzt. Unsere Autorin lebte 1994/95 und von 2013 bis 2016 dort – und findet: Noch immer ist die Hufelandstraße durchmischter als viele denken
Von Susanne Messmer
(Text) und Harf Zimmermann (Fotos)
Als wir im Februar 2016 ein letztes Mal durch die leer geräumte Wohnung in der Hufelandstraße 46 schlichen, da mussten wir doch heulen. Wir hatten freiwillig den neuen Mietvertrag in Pankow unterzeichnet, wollten wirklich unbedingt mehr Platz, näher ran an die Schule des Kindes, weg aus Prenzlauer Berg. Aber immerhin war es die Hufelandstraße, von der wir nun Abschied nehmen mussten. Die Hufelandstraße, von vielen Bewohnern einfach nur liebevoll Hufe genannt.
Wir hatten in der Hufe unser zweites Kind bekommen.
Wir kannten die Hufe, seit wir im kalten Berliner Winter 1994 in der Straße unsere erste Wohnung nach der Flucht aus der hessischen Provinz bezogen hatten. So viel Geschichte, so nackte Brandmauern, so bröckelnde Fassaden, dachten wir.
2013 waren wir zurückgekehrt in die Straße, nach 19 Jahren in acht Wohnungen in fünf Berliner Bezirken. Anders als andere Straßen haben wir die Hufe aber nie aus den Augen verloren. Und wir haben sie trotz eigener Zweifel in all den Jahren immer gegen jene verteidigt, die fanden, sie sei den Bach runter gegangen.
Der Fotograf Harf Zimmermann, der die Hufelandstraße im Rahmen seiner Diplomarbeit Mitte der 80er und dann wieder seit 2009 fotografierte und dessen Bilder wir auf diesen Seiten zeigen, findet, dass die Straße ausschließlich vom Verschwinden erzählt. Dass der nahezu flächendeckende Austausch der Bevölkerung ein Verlust ist. Ich finde, das stimmt zwar, ist aber nur eine Seite der Medaille.
Ich kenne in der Hufe bis heute jeden Pflasterstein, in fast jedem der schönen Häuser kenne ich Leute, noch heute. Mehr als ein Jahr nach dem Umzug bin ich nicht ganz drüber weg, dass ich hier nicht mehr wohne. Für mich ist die knapp einen Kilometer lange Hufelandstraße in Prenzlauer Berg nach wie vor eine der besten Straßen Berlins. Sie funktioniert wie ein ideales Dorf in der großen Stadt, wo jeder jeden kennt. Wenn auch nur beim Vornamen – also ohne Sozialkontrolle.
Meine Theorie zur Hufelandstraße ist die: Anders als andere Gegenden in dieser Stadt war die Hufelandstraße schon zu DDR-Zeiten eine Enklave all dessen, was toll ist am Bürgerlichen. Manchmal wurde sie sogar Kurfürstendamm des Ostens genannt. Hier wohnten Handwerker, Künstler, Schauspieler und Hochschulprofessoren. Und während die SED mit ihrem Wohnungsprogramm in Marzahn und Hellersdorf verbissen neue Stadtteile aus dem Boden stampfte, war sie mit den Altbauten der Hufelandstraße überfordert. Sie blieben liegen. Man ließ sogar familiengeführte Geschäfte, die anderswo verstaatlicht wurden, relativ unbehelligt.
Die Menschen hatten genug Muße, alternative Lebensmodelle auszuprobieren – oder auch das althergebrachte Zusammenleben und den produktiven Austausch der Milieus zu pflegen. Sie machten es genau so, wie es James Hobrecht, nach dessen Plan die Hufelandstraße im 19. Jahrhundert angelegt wurde, intendiert hatte.
Diese Berliner Mischung, die so lange in der Hufelandstraße gehalten hat: Sie hallt bis heute nach. Dabei bleibe ich – obwohl die Straße eine der ersten war, die im Kiez gründlich durchgeputzt wurde –, wegen der Altbauwohnungen, die geräumiger waren, der Hausflure, die großzügiger verziert waren als in anderen Ecken in Prenzlauer Berg.
Dabei bleibe ich auch, seit man auf der Hufe an schönen Samstagvormittagen auf Schritt und Tritt nicht nur den bekannten Spätgebärenden mit den teuren Kinderwagen und prominenten Bewohnern wie Nina Hoss, Dirk von Lowtzow oder Daniel Brühl begegnet, sondern auch eher unangenehmen Ausflüglern. Zum Beispiel Fernsehsternchen aus der dritten Reihe, die auf dem Bürgersteig veganes Bioeis der Geschmacksrichtung Rhabarber verzehren und Dinge sagen wie „place to be“.
Die Ausstellung der Arbeiten Harf Zimmermanns unter dem Titel „Hufelandstraße – 1055 Berlin“ eröffnet am Freitag, dem 28. April, um 19 Uhr in der Galerie C/O Berlin, Hardenbergstraße 22–24. Zu sehen bis 2. Juli, täglich 11–20 Uhr.
Harf Zimmermann, 1955 in Dresden geboren, gehörte 1990 zu den Gründern der Fotoagentur Ostkreuz, lebt und arbeitet in Berlin. Das dokumentarische Projekt Zimmermanns zur Hufelandstraße war 1987 seine Diplomarbeit als Meisterschüler von Arno Fischer an der Hochschule für Buchkunst und Grafik in Leipzig. Inspiriert war er vom US-amerikanischen Fotografen Bruce Davidson, der in den 70er Jahren zwei Jahre lang das Leben in und um einen Wohnblock in Spanish Harlem fotografiert hatte.
2009 kehrte Zimmermann in die Hufelandstraße zurück und fotografiert seither wieder die Straße und ihre Bewohner. (sm)
Hier alt werden
Es ist ein kühler Mittag Mitte April. Das viele Licht kommt wie immer gut in der breiten Straße. Die Platanen knospen gerade erst, und ich bin mit der ersten Hufelandstraßenbewohnerin verabredetet, die ich kennen gelernt habe.
Sibylle G. ist Anfang 60, eine schöne, schlanke Dame mit lustigen Lachfalten. Sie ist Deutschlehrerin an einer Schule ums Eck, weshalb sie ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will. Seit Anfang der 80er Jahre wohnt Sibylle in ihrer kleinen, aber charmanten Zweizimmerwohnung. Sie hat ihre Tochter hier großgezogen – und eigentlich würde sie in der Hufelandstraße trotz der Veränderungen seit der Wende auch gern alt werden, wie sie sagt.
Sibylle begrüßt im Café La Tazza beide Frauen hinterm Tresen mit Vornamen. Sie kennt auch den Wirt, erzählt sie, der ebenfalls aus dem Osten ist. Das La Tazza ist eines der ersten Cafés, die hier nach der Wende aufmachten. Inzwischen ist es einer von 22 Gastronomiebetrieben in der Straße. Für die meisten von ihnen interessiert sich Sibylle nicht. Obwohl sie gern hier wohnt und eine der wenigen ist, die nie Probleme mit dem Vermieter hatte, kann sie mit vielem, was die Hufelandstraße heute ausmacht, wenig anfangen. Pfannkuchen aus Indonesien, wie es sie zwei Häuser weiter gibt? Der Makler gegenüber, der auch schon mal ein Penthouse für 8.000 Euro den Quadratmeter im Fenster hatte?
Viele der alten Bekannten von Sibylle sind inzwischen weggezogen, in den Speckgürtel oder noch weiter raus. Von der DDR, der Boheme, den Handwerksbetrieben, dem gemütlichen Miteinander, wie Harf Zimmermann es in der Hufelandstraße fotografiert hat, ist wirklich nichts mehr übrig, meint sie. Und erinnert sich mit berechtigter Wehmut in der Stimme an den letzten Rest aus ihrer Perspektive, den Gemüseladen der Eheleute Schramm, der nach 126 Jahren Familienbetrieb in Prenzlauer Berg im Jahr 2015 Schluss machte. Dort war sie Stammkundin, auch wenn es ihr zuletzt ein bisschen zu bio und ein bisschen zu teuer war.
Und trotzdem: Sibylle entspricht nicht dem Klischee der letzten Ureinwohnerin, die keinen Bezug mehr hat zur Welt, in der sie wohnt. Sie hat auch neue Bekannte gewonnen.
Die Kinder, die sie unterrichtet, zum Beispiel. Sie entsprechen eigentlich nicht dem Klischee der vernachlässigten Wohlstandskinder. Im Gegenteil: Sibylle findet sie völlig normal, neugierig, aufgeweckt. Die meisten der Eltern, weiß sie, wohnen schon seit über 20 Jahren hier. Viele geben die Hälfte ihres Familieneinkommens für die Mieten aus. Meist arbeiten beide, aber nicht so viel, dass sie keine Zeit mehr hätten für den Nachwuchs. Und für indonesische Pfannkuchen und Penthouses interessieren sich die meisten so wenig wie Sibylle.
22 Cafés auf einem knappen Kilometer, man könnte es Monokultur nennen, wären da nicht die vielen anderen Läden, in denen man noch immer vieles kaufen und erledigen kann, was den Alltag aller ausmacht. Gut: Kinderklamotten, Spielzeug, Kinderschuhe, die gibt es auch. Es gibt aber außerdem eine Apotheke, einen Bäcker, Friseure, Juweliere, Möbel- und Antiquitätengeschäfte, Reisebüros, Blumenläden, einen Kiosk, einen Laden für Reinigungs- und Haushaltstechnik.
Eines der schönsten Geschäfte in der Hufelandstraße ist aber Lekr Lebensmittel an der Ecke Bötzowstraße, der praktisch immer offen hat. Hier trifft sich wirklich alles, was hier lebt, auch die letzten Alten erledigen hier ihre Einkäufe, die letzten Armen. Herr Li, der in den 80ern aus Vietnam als Vertragsarbeiter in die DDR kam, stapelt auf wenigen Quadratmetern vom Korkenzieher bis zur Zeitschrift Yacht, von Katzenstreu bis zum Billigbier alles, was seinen Kunden gerade so fehlt. Herr Li hat immer Zeit für einen kurzen Plausch oder einen kleinen Flirt. Und wenn man mal nach einer Kaffeesorte fragt, die er wirklich nicht hat, dann besorgt er sie bis zum nächsten Tag.
Bis die Kinder groß sind
Eine Woche später, diesmal bin ich mit einer taz-Kollegin verabredet, die seit 1999 in der Hufelandstraße wohnt, mit Layouterin Christiane Voß (sie hat diese Seiten gestaltet).
Es ist immer noch kalt wie im Winter, es schneit sogar. Schade, denn vor der Kaffeebar Sommerhaus sitzt man nett. Aber auch drin ist es schön, alles ist anders als in vielen anderen Cafés in der Straße, die wirken wie aus dem Rahaus-Katalog: Vom Kuchen bis zum Sofa mit Spannbettlaken statt Bezug ist alles selbst gemacht, außerdem gibt es Bücher und Kleidung zum Tauschen und eine kleine Ausstellung mit Kunst für Schwarzlichtbeleuchtung.
Christiane ist wohl eine jener Personen, die man zu den Gentrifizierern der ersten Generation zählen könnte, die inzwischen selbst oft von Gentrifizierung bedroht sind. Nach zwei Jahren in der zweiten Etage ihres Hauses zog sie mitsamt Familie eine Etage tiefer. Ihre Nachbarin, Frau Kampfenkel, hatte vom 3. bis zum 86. Lebensjahr in dieser Wohnung gelebt. Nun war sie gestorben. „Ich fand so etwas immer total blöd, aber in dem Fall musste ich einfach kämpfen“, sagt Christiane. Es ging um ein Zimmer mehr. Die Miete, die sie damals verhandeln konnte, fühlte sich hoch an, ist aber seitdem gleich geblieben.
Auch Christiane, die nach dem Abi aus Bonn nach Berlin kam und heute 46 ist, würde gern in der Hufelandstraße bleiben – zumindest, bis die Kinder groß sind. Sie hat es nie bereut, es nicht wie viele andere gemacht zu haben: keine Immobilie gekauft zu haben. Keiner Baugruppe beigetreten zu sein. „Das macht was mit den Leuten“, sagt sie, und berichtet von der letzten Baulücke in der Hufelandstraße, die 2007 mit einem Haus mit bodentiefen Fenstern geschlossen wurde. Einmal hat sie dort beim Hausflohmarkt mitgemacht und war entsetzt, als einer der Bewohner am Nachbarstand den abgeranzten Kinderautositz aus dem Keller holte und noch 30 Euro dafür haben wollte – „den hätte ich im besten Fall verschenkt“. Am Abend musste er die Sachen wieder in den Keller räumen.
1999 bis 2017, 18 Jahre, das ist eine lange Zeit. Christiane kennt in der Hufelandstraße noch viel, viel mehr Menschen als ich. Wenn sie mal Lust hat zu quatschen, dann setzt sie sich ins Café. „Irgendwer kommt immer vorbei“, sagt sie.
Gegenüber die Leute aus einer der letzten Kneipen, aus dem Hally Gally, wo die Klientel manchmal gelinde gesagt ein wenig konservativ wirkt? Klar, die Wirte.
Und die Stylisten daneben, die Transfrau mit der Glatze und dem tiefen Ausschnitt, wo man am Anfang Sorge hatte, ob das klappt mit der Kneipe nebendran? Klar, die Crew vom „Etablissement“.
„Weißt du was?“, freut sich Christiane, „ich habe das Gefühl, die haben sich richtig gefunden inzwischen und sind gute Nachbarn geworden – so wie die meisten hier.“
Christiane kann sich gut vorstellen, dass sie sich auch in 20, 30 Jahren noch wohlfühlen wird in ihrer Hufelandstraße.
In meiner Hufelandstraße, in die ich wohl nicht mehr zurückkehren werde. Ich werde mir dort vermutlich keine Wohnung mehr leisten können. Auch nicht in 20, 30 Jahren.