: Die anderen fünfzig Prozent
TÜRKEI Nach dem offiziellen knappen Sieg der „Ja“-Kampagne beim Referendum ist die Rede von Wahlbetrug. In Ankara und Istanbul gehen Tausende auf die Straße
von Erk Acarer
Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu manipulierte auf besondere Art. Gleich zu Beginn der Auszählung erklärte sie, dass die Jastimmen bereits 70 Prozent erreicht hätten. Damit legten sie der Regierung eine Basis für mögliche Manipulationen. Auch war das ein probates Mittel, die Motivation der Oppositionellen zu drücken, so gab es weniger Beobachter in den Wahllokalen.
„Ja“ und „Nein“ lagen trotzdem während der Auszählung bald nahezu gleichauf. Dann aber kam aus verschiedenen Landesteilen die Nachricht, dass Wahlzettel ohne behördliche Stempel aufgetaucht seien. Sie wurden dem Hohen Wahlamt (YSK) gemeldet. Dies könnte ein Anzeichen dafür sein, dass gefälschte Stimmzettel bereits vorab in Umlauf waren. Was die YSK aber daraufhin beschloss, ist beispiellos in der Türkei: Obwohl qua Gesetz Wahlzettel und Umschläge ohne behördlichen Stempel als ungültig zu gelten haben, wurden diese für gültig erklärt.
Unregelmäßigkeiten oder gar Betrug hat die türkische Wahlkommission am Montag zwar zurückgewiesen. Die Wahlbeobachter der OSZE kritisierten jedoch, dass die späte Änderung der Abstimmungsregeln „gegen das Gesetz“ verstoßen habe und wichtige „Schutzvorkehrungen“ beseitigt worden seien. Die Betrugsvorwürfe der Oppositionsparteien CHP und HDP, die die Annullierung des Ergebnisses fordern, konnte die OSZE hingegen nicht bestätigen. Allerdings kritisierte Cezar Florin Preda von den Wahlbeobachtern des Europarats und der OSZE, dass der rechtliche Rahmen unzureichend geblieben sei „für die Abhaltung eines wahrhaft demokratischen Referendums“. Auch seien unter dem Ausnahmezustand Grundrechte eingeschränkt, die „essenziell für einen wahrhaft demokratischen Prozess sind“. Die Nein-Kampagne sei behindert worden, während eine einseitige Berichterstattung verhindert habe, dass sich die Wähler frei informieren konnten.
Nach dem von ihm reklamierten Sieg will Staatschef Recep Tayyip Erdoğan die Wiedereinführung der Todesstrafe auf die Tagesordnung setzen. „Wir haben viel zu tun, wir haben noch viel zu erledigen in diesem Land“, sagte Erdoğan am Sonntagabend vor begeisterten Anhängern. Als er fortfuhr: „So Gott will, wird die erste Aufgabe sein …“, unterbrach ihn die Menge mit: „Todesstrafe, Todesstrafe“. Wenn er dafür nicht die nötige Unterstützung im Parlament bekomme, „dann machen wir eben auch dazu eine Volksabstimmung“, bekräftigte Erdogan. (dpa, taz)
Proteste angekündigt
Die Regierung wies die Kritik der Wahlbeobachter als „inakzeptabel“ zurück. Die Opposition rief in sozialen Netzwerken und im Fernsehen dazu auf, die Manipulationen nicht hinzunehmen. Demnach seien mehr als 2 Millionen ungültige Stimmen mitgezählt worden – das wäre ein Unterschied von 3 bis 4 Prozent. Auch auffällig: Normalerweise bilden die Wahlergebnisse in den größten Städte der Türkei den Durchschnitt des Landes ab. Beim Referendum aber siegte in allen Metropolen das „Nein“-Lager, auf dem Land triumphierte das „Ja“.
Und was nun?
Realistisch gesehen haben die BürgerInnen zwei Handlungsmöglichkeiten: Sie können sich mit dem Ergebnis abfinden oder sich dagegen wehren. Beide Möglichkeiten hätten weitreichende Folgen und Risiken.
Sich dem Ergebnis zu beugen, würde bedeuten, dass Erdoğan weiterführende Machtpläne hegen wird. Sich zu wehren aber könnte zur Folge haben, dass sich die Spannungen in der Bevölkerung verschärfen. Wie auch immer es laufen wird: In der Türkei wird es auf kurze Sicht keine Stabilität geben.
Schon in der Nacht zum Montag kam es zu ersten Protesten. In Istanbul und Ankara gingen Tausende Menschen auf die Straße, um gegen das als illegitim empfundene Wahlergebnis und die Regierung zu protestieren. Einige Protestierende wurden festgenommen, etwa der taz.gazete-Autor Murat Bay, der dort filmte. Die Polizisten hätten sein Filmmaterial von der Speicherkarte gelöscht, berichtet Bay, der inzwischen wieder frei ist. Für den Montagabend hatten zahlreiche Oppositionsgruppen zu Protesten in Istanbul aufgerufen.
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