: Mehr als verstörend
Türkei Eigentlich war das Land auf dem Weg zur Demokratisierung. Jetzt hat sich aber der alte, nicht überwundene Despotismus wieder durchgesetzt
von Roy KaradaĞ
Die derzeitigen Entwicklungen in der Türkei werfen sehr verstörende Fragen auf: Wie viel Gewalt und Exklusion verträgt eine moderne Gesellschaft im 21. Jahrhundert? Lassen sich Freiheiten gegen ein politisiertes Rechtssystem verteidigen? Und kann man wirklich immer noch Menschen mobilisieren mit verschwörungstheoretisch anmutenden Ausführungen zu Finanzmärkten, den wirklichen Interessen von Europäern, Amerikanern, Juden und Christen, der HDP, Intellektuellen, Künstlern und, natürlich, Journalisten?
Die aktuelle Türkei wirft deswegen so viele Fragen auf, weil es die autoritäre Transformation, die sie zuletzt hinter sich gebracht hat, nicht hätte geben dürfen. Eigentlich war die Türkei auf einem guten Weg in Richtung Demokratisierung politischer Institutionen, befand sich in einer positiven Dynamik, was die Konfliktverregelung der türkischen Kurdenfrage betraf, hatte die globale Finanzkrise von 2008 relativ gut überstanden und hielt, trotz der Streitigkeiten um die Zukunft Zyperns, an ihrem Europäisierungs(dis)kurs fest.
Unaufhaltsame Macht
Nach Jahren der Repression ist das nun alles vorbei. Doch wenn keine der früheren politischen Öffnungen diese autoritäre Wende aufhalten konnte, was sind sie dann überhaupt wert?
Bislang war es Herrschern in bereits etablierten autoritären Regimen vorbehalten, Liberalisierungsschritte auf strategische Art und Weise umzusetzen. Das tat man, um Teile der Opposition für das Regime zu gewinnen, um zivilgesellschaftliche Organisationen zu kooptieren und um in der globalen Öffentlichkeit das Ziel der Demokratie für sich zu beanspruchen und sich somit dem Zeitgeist anzupassen. Dass aber Liberalisierungen im Kontext real existierender demokratischer Institutionen zu einer unaufhaltbaren Akkumulierung politischer Macht führen konnten, war so nicht vorgesehen. Denn man ging davon aus, dass sich eine gestärkte Zivilgesellschaft ihren Handlungsspielraum nicht mehr würde nehmen lassen, zumal nicht unter der Bedingung formal freier und geheimer Wahlen.
ist Geschäftsführer des Instituts für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen. Zuletzt erschienen von ihm „Das Ende der türkischen Demokratie“ in den Südosteuropa-Mitteilungenund „Die Rolle der Türkei in der Region: (Un-)Ordnungsgarant im neuen Nahen Osten“ in Aus Politik und Zeitgeschichte.
Das wäre nun nicht das erste Mal, dass sich eine Demokratie selbst abschafft. Und es wäre auch nicht das erste Mal, dass die moderne Türkei autoritär beherrscht würde. Denn sie war seit ihrer Entstehung nie wirklich demokratisch. Das autoritäre Staatsprojekt des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk, der Umstand, dass Demokratie in der türkischen Geschichte nie erfolgreich von unten erkämpft wurde, und der rassische Nationalismus sind vermutlich die wichtigsten Gründe für diesen Mangel an Demokratie.
Angesichts dieser widersprüchlichen Demokratiegeschichte konnte die AKP noch vor zehn Jahren für sich beanspruchen, immerhin mehr Freiheit und Gleichheit produziert zu haben als die vorigen Eliten. Sie muss sich nun aber den Vorwurf gefallen lassen, diesem Herrschaftsanspruch einfach nicht mehr genügen zu können. Ihre Unfähigkeit, Macht mit anderen Akteuren und Organisationen zu teilen und Dissens zumindest zu tolerieren, zwingt sie seit Jahren zur Ausweitung repressiver Maßnahmen gegen Andersdenkende. Ihre jüngsten Opfer sind die Berufsstände des Journalismus und der Sozial- und Geisteswissenschaften, deren Aufgabe es nun einmal ist, von den Regierungsdiskursen abweichende Sichtweisen auf Politik und Gesellschaft zu produzieren.
Die AKP repräsentiert formal weiterhin den Willen der Mehrheit der türkischen Bevölkerung. Sie und ihre Apologeten haben jedoch die Fähigkeit verloren, Menschen mit Argumenten, mit Ideen und Narrativen zu überzeugen und emotional für die gemeinsame Sache zu begeistern. Ihre Anhänger scheinen derzeit zu erkennen, dass die Strategie der kulturellen Polarisierung ihr zwar zur jetzigen Machtfülle verholfen hat, aus der türkischen Gesellschaft aber nicht mehr an Stimmen rauszupressen ist. Also kann die AKP auf Kritik und Ungehorsam nur noch mit Zwang reagieren, wenn der demokratische Diskurs und der Streit in der Öffentlichkeit kein Mehr an politischer Macht produzieren.
Es bedarf keiner besonderen Expertise, um zu erkennen, dass die AKP nur noch mit nackter Gewalt regiert und auf Herausforderungen reagiert. Die juristische Willkür, der Angeklagte ausgesetzt sind und die keine Gleichbehandlung vor dem Gesetz ermöglicht, spricht für sich. Das alles erfolgt mit einem Ausmaß an Einschüchterung, das seinesgleichen sucht.
Ungeschminkte Gewalt
Eigentlich versuchen autoritäre Eliten, Repression und Gewalt behutsam einzusetzen, damit zumindest der Schein des Demokratischen gewahrt bleibt. Daher ist es so verstörend mitanzusehen, dass die AKP ihren Gewalteinsatz nicht einmal mehr versucht zu verschleiern. Dadurch dass seit Monaten allen Abweichlern und Oppositionellen Vaterlandsverrat und Terrorunterstützung vorgeworfen wird, entsteht ein generalisiertes Klima der Angst, vor dem man sich nicht mehr schützen kann. Das Politische wird banalisiert und von allen vernunftbasierten Rechtfertigungen befreit. Und oppositionelle Aktivisten haben verstanden, dass sie sich in existenzielle Gefahr bringen, wenn sie sich für ihre Ideale einsetzen.
Es ist dieses Ausmaß an Banalität, welches Beobachter staunen und die der AKP machtlos Ausgelieferten schaudern lässt. Diese Banalität wird im Falle des Endes dieser despotischen Herrschaft eine gesellschaftliche Aussöhnung unmöglich machen. Denn im Angesicht dieses allzu sichtbaren physischen und psychischen Zwangs zur Erzwingung von Gefolgschaft werden die heute Überlegenen einfach keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage abgeben können, wie sie diese neue Unfreiheit zulassen konnten. Damit sind die aktuellen Unrechtserfahrungen auf Jahrzehnte in die Körper der Bevölkerung eingeschrieben. Und die Hoffnungen auf ein friedliches Miteinander auf absehbare Zeit einfach nicht mehr einlösbar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen