Folgen des Türkei-Flüchtlingpakts: Nie wieder Rakka
Was bringt das Flüchtlingsabkommen zwischen EU und Türkei den Betroffenen? Die Geschichte einer Syrerin in der Türkei, die nun eine rote Bankkarte hat.
Ihre Wohnung befindet sich im ersten Stock eines Hauses in einem Außenbezirk von Urfa, im Süden der Türkei. Draußen sieht man das Gebirge, das den Frieden vom Krieg trennt, es leuchtet ockerfarben, dahinter liegt die Grenze, und durch den eisblauen Himmel darüber ziehen sich die Streifen der Bomber der US-Armee auf ihrem Weg zum „Islamischen Staat“. Al-Mustafa trägt einen türkisfarbenen Mantel und ein schwarzes Kopftuch, ihre Züge sind hart. Sie ist 42 Jahre alt, die Kinder sind 6, 7 und 8, der Altersabstand zur Mutter ist ungewöhnlich in einer Region, in der viele Frauen Kinder bekommen, bevor sie volljährig sind. Aber al-Mustafa hat studiert, spät geheiratet; einen Zimmermann, der meist in Saudi-Arabien arbeitete.
In ihrer Wohnung in Urfa gibt es keine Möbel, nur Teppiche, in der Ecke steht ein großer, eiserner Ofen. Doch zum Heizen hat al-Mustafa nichts. Daneben steht eine Nähmaschine, die große Rolle schwarzen Garns sticht in die kalte Luft. Darunter versteckt sich eine der Töchter.
Anfang Januar war al-Mustafa auf der anderen Seite Urfas, in einem Gebäude, das der Türkische Rote Halbmond gemietet hat. 400.000 syrische Flüchtlinge leben in der Stadt, mehr als in jeder anderen in der Türkei, Istanbul ausgenommen. Seit Dezember haben hier pro Tag 240 Familien einen Termin, penibel geordnet nach dem Stadtteil, in dem sie leben.
Das Abkommen: Am 18. März 2016 einigen sich EU-Rat, EU-Kommission und die Türkei auf ein Abkommen. Damit sollten die Flüchtlinge in der Türkei gehalten werden. Präsident Erdoğan versprach, zu verhindern, dass die Syrer nach Europa ausreisen. Die Europäische Union stellte im Gegenzug Geld für die Flüchtlingsversorgung, Beitrittsverhandlungen und Visumfreiheit für Türken in Aussicht.
Die Unterstützung: Die Facility for Refugees in Turkey wurde von der EU mit 3 Milliarden Euro für 2016 und 2017 ausgestattet. Bislang sind davon 2,2 Milliarden für konkrete Projekte eingeplant. 38 Projektverträge über 1,46 Milliarden Euro wurden abgeschlossen, 750 Millionen Euro ausgezahlt. Bei Bedarf könnten für 2018 und 2019 noch einmal 3 Milliarden Euro nachgelegt werden.
Al-Mustafa setzte sich auf eine der blauen Metallbänke, und als die Digitalanzeige auf ihre Wartenummer sprang, bekam sie einen Fragebogen, 17 Seiten. Wer nicht lesen kann, muss sich beim Ausfüllen von seinen Nachbarn helfen lassen. Dann trat sie in dem neonbeleuchteten Innenraum an einen der Schalter, zeigte Ausweise vor, ihren eigenen und die der Kinder, und gab den Fragebogen ab. Es war der Antrag auf Leistungen aus dem Emergency Social Safety Net, dem EU-Flüchtlingshilfsprogramm, das in diesen Wochen anläuft.
Vor einem Jahr, am 18. März 2016, trafen sich in Brüssel der damalige türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und EU-Ratspräsident Donald Tusk. Sie schlossen ein Abkommen über die syrischen Flüchtlinge, das eigentlich ein Pakt zwischen der deutschen Kanzlerin und dem türkischen Präsidenten war. „Die Türkei wird alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um neue See- oder Landwege für die illegale Einwanderung von der Türkei in die EU zu verhindern“, steht unter Punkt 3 der Abmachung, die offiziell nur eine „Stellungnahme“ ist, kein völkerrechtliches Dokument. Die Gegenleistung steht unter Punkt 6. Sie heißt „Facility for Refugees in Turkey“. Ein Milliarden-Euro-Etat, Europas Beitrag zur Versorgung der Flüchtlinge im Reich Erdoğans. Zwei Milliarden aus Brüssel, eine Milliarde von den Mitgliedsstaaten, auszugeben bis Ende dieses Jahres, ab 2018 vielleicht noch einmal so viel.
Daher stammt das Geld, das Sabha al-Mustafa nun, von Ende des Monats an, bekommen soll.
Sie hatte Rakka, die Hauptstadt des „Islamischen Staats“, Mitte 2016 mithilfe einer Lüge verlassen. Das ist die Geschichte, die sie erzählt: Ihre Tochter brauche eine Brille, hatte sie den Dschihadisten gesagt. Dabei sind die Augen ihrer Tochter völlig in Ordnung. „Wir haben etwas gesucht, was in Rakka nicht behandelt werden kann“, sagt al-Mustafa.
Als sie die Stadt verließ, gab es in Rakka keine Augenoptiker mehr. Und auch keine Schulen. Nur den Koranunterricht in der Moschee. „Gehirnwäsche“, sagt al-Mustafa. So unterrichtete sie ihre eigenen Kinder zu Hause. Zu essen gab es in Rakka immer weniger. Die Stadt wurde belagert. Bevor der IS kam, kostete Brot 30 syrische Lira, am Ende waren es mehr als 100. Was es gab, waren Hinrichtungen. „Die Mädchen konnte ich im Haus behalten, der Junge musste sie mit ansehen“, sagt al-Mustafa.
Sabha Al-Mustafa
Am 20. Juni 2016 ließ der IS sie mit den beiden Töchtern und ihrem Sohn nach Damaskus reisen. Dort gibt es Optiker. Und die Behörde, die Pässe ausstellt. Khamila Sabha al-Mustafa musste dem IS versprechen, zurückzukommen.
Als sie Rakka 2016 verließ, hatte die Türkei die Grenze weitgehend geschlossen. 1.800 Euro wollten die Schlepper dafür, sie und ihre drei Kinder trotzdem aus Syrien zu bringen. „23 Jahre habe ich gearbeitet“, sagt al-Mustafa. „Alles, was ich gespart habe, und mein verkaufter Schmuck reichten gerade, um das zu bezahlen.“ Elf Menschen waren in ihrer Reisegruppe, zweimal wurden sie beschossen. Nur zehn erreichten am 3. Juli 2016, nach vier Tagen und drei Nächten, die Türkei. „Wir hatten nicht einmal mehr Gepäck“, sagt al-Mustafa.
Als sie ankamen, im sechsten Kriegsjahr, waren die Camps für Flüchtlinge in der Türkei längst voll. Wer nicht im Camp leben darf, muss sehen, wo er bleibt. Al-Mustafa und ihre Schwester fanden eine Wohnung. 810 Lira kostet sie, umgerechnet 213 Euro. Drei Räume, für zwei Erwachsene und sechs Kinder. Kein Geld für alles andere.
Was essen die Kinder? „Die Nachbarn kochen für sie mit.“
Was isst sie selbst? „Manche Menschen stecken mir auf der Straße Brot zu.“
Das ist der Status quo.
Das Armenlos der Geflohenen
Immer wenn Flüchtlinge aus Rakka in Urfa ankommen, fragt al-Mustafa sie nach ihrem Mann, der nachkommen sollte. Sie hofft, dass der IS ihn nicht getötet hat. Doch es kommt fast niemand mehr, den sie fragen kann. Der IS hat Jagd auf Schlepper gemacht und sie hingerichtet. Al-Mustafa fürchtet, ihren Mann nie wiederzusehen.
Im Dezember, erzählt al-Mustafa, habe sie aufgeben wollen. Die Kraft habe sie verlassen. „Ich wollte zurück nach Rakka“, sagt sie. „Dort habe ich wenigstens ein Haus.“
Ihre Geschichte zeigt, wie Flüchtlinge in der Türkei leben. Kein Staat der Welt hat annähernd so viele Menschen aufgenommen. Doch ihre Lage ist verheerend. 2.910.281 SyrerInnen waren diese Woche in der Türkei registriert. Dazu kommen einige Hunderttausend aus Iran, Irak, Afghanistan, Pakistan, Afrika.
Zwar hat die Türkei den Arbeitsmarkt offiziell für SyrerInnen geöffnet, aber bis heute hat das Arbeitsministerium gerade mal 10.000 Arbeitserlaubnisse ausgestellt, für diejenigen unter ihnen, die formell Beschäftigungen fanden. Nicht einmal jeder Zehnte der Syrer ist in einem der 26 offiziellen Camps untergekommen. Wer darin lebt, wird versorgt. Wer draußen bleibt, meist nicht. Etwa 500.000 Flüchtlinge in der Türkei haben die UN in diesem Winter mit etwas Geld für Heizmaterial und Lebensmittel unterstützt. Das klingt nach viel, heißt aber: Zwei Millionen bekommen nichts. 90 Prozent der Flüchtlinge gelten als arm. Ein Drittel hat nur unregelmäßig genug zu essen, nur etwas mehr als jedes zweite schulpflichtige Kind besucht eine Schule. Die anderen gehen meist betteln oder arbeiten. „Negative Coping“-Strategien nennen die Hilfsorganisationen das: Der Versuch, ein Problem zu lösen, schafft neue.
Die Grenze nach Syrien, die Khamila Sabha al-Mustafa überquert hat, ist heute geschlossen, aufgerüstet, verbarrikadiert mit Betonblöcken, Stacheldraht, Sperrzonen. Nur Schwerverletzte und ihre Angehörigen lässt die Türkei theoretisch noch einreisen. „White door“ heißt das Prinzip. Jahrelang hatte das Land offene Türen für viele Syrer. Es nahm sie auf, aber versorgte sie nicht. Die Mittel der Hilfsorganisationen reichten hinten und vorne nicht. Das ist der wichtigste Grund, warum 2015 so viele SyrerInnen nach Europa kamen.
Der Großteil der Flüchtlinge in der Türkei lebt dort schon seit etwa 2013. Jahrelang fühlte Europa sich nicht für sie verantwortlich. Erst die Krise auf der Balkanroute, im Sommer 2015, änderte das. Europa erkaufte sich die Abschottung mit der Versorgung der Flüchtlinge.
Flüchtlinge erhalten Geld am türkischen Staat vorbei
Seit einigen Monaten fließen also die Milliarden aus Brüssel. 3 Milliarden, das sind gute 1.000 Euro pro Flüchtling, für, grob gerechnet, zwanzig Monate. Wie weit kommt man damit in einem Land, in dem die Verbraucherpreise im Februar bei immerhin 64 Prozent des deutschen Niveaus lagen?
„Am Anfang haben wir Zahnpasta, Mehl und Milch verteilt“, sagt Christina Hobbs vom UN-Welternährungsprogramm. Doch seit Jahren gehen Hilfsorganisationen dazu über, nicht Güter, sondern Geld auszugeben, wenn das möglich ist. Untersuchungen ergaben, dass Flüchtlinge, die nur Lebensmittel bekommen, rund die Hälfte ihrer Rationen verkaufen, um andere notwendige Dinge zu kaufen. In Regionen wie Südsudan nützen Cashcards wenig, in der Türkei, wo es Banken gibt und volle Supermärkte, sind die Voraussetzungen aber perfekt.
Neunmal ist Angela Merkel in die Türkei gereist, in den vorigen zwei Jahren häuften sich die Besuche. Das letzte Mal war sie Anfang Februar dort. Sie wollte sichergehen, dass sich Präsident Erdoğan an seine Zusage hält. Am Abend vor ihrem Besuch klagte Erdoğan, der gedroht hatte, Millionen Syrer per Bus in die EU zu schicken: Die 3 Milliarden Euro seien noch immer nicht angekommen. Erdoğan sähe das Geld am liebsten auf Konten des Staates. Er braucht dringend Devisen. Die Lira ist nach dem Putschversuch im Juli abgestürzt, die Kreditwürdigkeit der Türkei ebenso, das Außenhandelsdefizit ist schon länger enorm. Doch die Europäer zahlen das Geld weitgehend am Staat vorbei aus. Und entscheiden allein, wofür. Die Türkei hat im Vergaberat der Facility for Refugees in Turkey nur Beobachterstatus. Ein diplomatischer Affront. Erdoğan sollte nicht alles bekommen, was er wollte.
Aufgrund des Deals mit Erdoğan gibt die EU in diesem und dem nächsten Jahr in der Türkei mehr Geld für Nothilfe aus als im ganzen Rest der Welt. Ein großer Teil fließt in das Emergency Social Safety Net, das weltweit größte Hilfsprogramm seiner Art.
Der Schlüssel ist die Bankkarte, wie sie Khamila Sabha al-Mustafa bekommen hat, ausgestellt von der staatlichen türkischen Halkbank. Sie trägt das Logo des Roten Halbmonds, der das Projekt umsetzt. Vor einer Woche haben die Geldautomaten der Halkbank ein arabisches Menü bekommen.
Anders als mit den Guthabenkarten etwa für Lebensmittel – conditional cash genannt –, die Flüchtlinge bislang bekamen, kann mit dieser Karte Bargeld abgehoben werden. Die Anträge der Geflüchteten nimmt der Rote Halbmond seit November entgegen.
Wer Geld bekommen will, muss beim Innenministerium eine Adresse nachweisen. Wohnungslose fallen so heraus. Die zweite Voraussetzung, um Leistungen zu bekommen, ist „Vulnerabilität“, „Verletzbarkeit“. Abgefragt werden bei jeder Familie Merkmale wie alleinerziehende Eltern, Haushalte, die von Senioren geführt werden, Haushalte mit Behinderten, eine hohe Zahl von Kindern, formale Erwerbslosigkeit. Die Angaben werden so gewichtet, dass am Ende etwas mehr als jeder dritte syrische Flüchtling als „vulnerabel“ gilt. Rund eine Million Menschen. So viele Bezieher soll es bis kommenden Juni geben; die Leistungen sollen zunächst zwei Jahre lang laufen.
Was auch heißt: Etwa 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge bleiben unversorgt.
100 Lira pro Person und Monat bekommen die Bezieher des Gelds aus dem Emergency Social Safety Net, dem Flüchtlingshilfsprogramm ESSN, etwa 30 Euro. Zu wenig zum Leben. Das EU-Budget würde mehr hergeben, aber die türkische Regierung erhob Einwände: „höhere Zahlungen an Syrer könnte Proteste unter armen Türken provozieren, die sich zurückgesetzt fühlen“, sagt Jane Lewis, Büroleiterin der EU-Nothilfeagentur ECHO in der Türkei. Trotzdem könnte der Betrag aufgestockt werden. „Wir planen Zusatzzahlungen für Familien, die ihre Kinder zur Schule schicken.“ Rund 40 Lira, vielleicht etwas mehr für Mädchen, könnten es werden.
Die Vorteile des Systems sind klar: Die Flüchtlinge sind autonom. Sie sind nicht an Ausgabestellen in Camps gebunden, können sich frei im Land bewegen, die Karte funktioniert an jedem Geldautomaten. Sie bekommen keine Säcke mit Reis oder Mehl, sondern können entscheiden, was sie kaufen, Preise vergleichen. Die Verwaltungskosten des ESSN sollen bei 15 Prozent des Budgets liegen – für solche Hilfsprogramme ist das ein sehr niedriger Anteil. Das Geld wird zentral verwaltet und ausgezahlt. Steigen weitere Geber ein, zum Beispiel Japan, könnten die Zahlungen ohne weiteren Aufwand aufgestockt werden.
Doch die computergestützte Steuerung funktioniert auch in umgekehrter Richtung: um Flüchtlinge vom Bezug wieder auszuschließen. Die ESSN-Daten werden automatisch mit denen der türkischen Behörden abgeglichen. Bekommt ein Flüchtling eine Sozialversicherungsnummer, weil er eine Arbeit findet, wird die Zahlung automatisch eingestellt. Auch die Daten des Bildungsministeriums werden abgeglichen: Besuchen Kinder weniger als 80 Prozent des Unterrichts, wird auch die Zusatzzahlung automatisch abgestellt. Hartz IV lässt grüßen. Informiert werden die Flüchtlinge darüber jeweils per SMS. Wer findet, dass der Vulnerabilitätsalgorithmus oder die Datenbanken ihm Unrecht tun, kann gebührenfrei die Nummer 168 anrufen: Der Türkische Halbmond hat ein arabischsprachiges Callcenter eingerichtet. Der Autonomiegewinn durch die Bankkarte ist mit einem technologischen Steuerungsregime erkauft, auf das die Betroffenen keinen Einfluss haben.
Ein kleinerer Teil des Gelds fließt direkt an den Staat
Mit dem ESSN ist es nicht getan. Syrische Kinder haben Anspruch auf Beschulung, knapp eine Million zusätzlicher Plätze muss die Türkei für sie schaffen. Die SyrerInnen können sich in staatlichen Krankenhäusern behandeln lassen, drei Millionen zusätzliche Patienten muss das türkische Gesundheitssystem deshalb versorgen. Rund 600 Millionen Euro der EU-Milliarden gehen deshalb an das Gesundheits- und Bildungsministerium – ein kleinerer Teil des Gelds fließt also auch direkt an den Staat.
Eines der Probleme ist, dass die meisten Patienten kein Türkisch sprechen. Weitere Millionen fließen deshalb in die Umschulung syrischer Ärzte. Rund 1.000 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter den Flüchtlingen gezählt. 600 Gesundheitszentren für SyrerInnen werden jetzt nach und nach in der Türkei eröffnet. Dort sollen, das ist der Plan, die geflüchteten syrischen Ärzte und Pflegekräfte arbeiten.
An einem Morgen im Februar sitzen rund zwanzig von ihnen im Ballsaal des Hotels Dedeman in Urfa. Wo sonst Hochzeiten gefeiert werden, steht jetzt eine WHO-Dozentin, die Organisation hat das Hotel für die Fortbildung gemietet. Ärzte und Schwestern sitzen zwischen Säulen an weiß gedeckten Tischen und folgen ihren Ausführungen über Nierensteine. Der Laserpointer der Dozentin hüpft zwischen den Wörtern für „Blase“ und „Harnröhre“ hin und her. Alle im Saal wissen, was Nierensteine sind, aber sie sollen die türkischen Begriffe lernen.
Die Regelungen für ausländische Ärzte, die in der Türkei eine Approbation wollen, sind streng. „Wegen der Notsituation wird bei den Syrern ein vereinfachtes Verfahren durchgeführt,“ sagt Mustafa Bahadir Sukaci von der WHO. Sechs Wochen dauert die Fortbildung. Einer der Teilnehmer ist Majid al-Muhammad, ein Kinderarzt in Wollpullover und mit Bürstenhaarschnitt. 2012 verließ der 42-Jährige seine Heimatstadt Homs. Mit seiner Familie lebt er seither in der Harran Kokenli Container City, einem Containerlager für 16.000 Menschen direkt an der syrischen Grenze. „Die Sprache ist das Schwierigste, wenn man hier als Arzt arbeiten will“, sagt al-Muhammad. Im Februar endet die Fortbildung, er will sich auf eine der Stellen in den neuen Gesundheitszentren bewerben. 750 Dollar zahlt die Regierung den syrischen Ärzten. „Wir werden Syrien nicht vergessen, aber wenn es geht, bleiben wir hier“, sagt er. Er hat ein unbegrenztes Aufenthaltsrecht. „Sonst wäre ich in Europa.“ Menschen wie Majid al-Muhammad bringt der Türkeideal so bescheidene Jobs.
Andererseits stecken infolge des Abkommens Zehntausende Syrer in Griechenland unter erbärmlichen Bedingungen fest. Bei Schnee und Eisregen müssen sie auf Gefängnisinseln, in überfüllten Lagern ausharren. „Sie zahlen den Preis für den europäischen Zynismus und den verwerflichen Deal mit der Türkei“, sagt Clement Perrin von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland.
In dem Flüchtlingsdeal hat die EU sich verpflichtet, das Kapitel 33 der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen und bis Juni 2016 Visumfreiheit für Türken einzuführen. Beides ist nicht geschehen. Die Türkei dürfte nichts anderes erwartet haben; als die EU im letzten Oktober ein von der Türkei gestelltes Ultimatum zur Visumfreiheit verstreichen ließ, geschah jedenfalls – nichts.
Christian Jakob, 37, ist Reporter der taz. Die Recherchereise wurde vom European Journalism Center mit Geldern der EU-Kommission finanziert.
Eine andere Gegenleistung aber, die im Text des Abkommens nicht auftaucht, hat Erdoğan sehr wohl bekommen: den Verzicht auf die Einmischung in die türkische Innenpolitik. Spätestens seit dem Putschversuch vom Juli baut der Präsident das Land in einen islamisch-autoritären Staat um. Im Südosten führt er einen erbarmungslosen Krieg gegen die Kurden. Widerspruch, Sanktionen des Westens gar muss er nicht fürchten. Die Flüchtlinge garantieren das.
Daran denkt Khamila Sabha al-Mustafa nicht. Anfang Februar, nachdem sie die rote Geldkarte in einer Bankfiliale an der Atatürkstraße abgeholt hatte, bekam sie eine weitere SMS. Ab Ende Februar würde das erste Guthaben verfügbar sein, stand da: 400 Lira, gut 100 Euro. Was sie davon kaufen werde? „Nichts“, sagt sie. Sie sei froh, dass sie dann die Miete bezahlen könne.
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