Verfassungsreferendum in der Türkei: Die Opposition glaubt an den Sieg
Staatschef Erdoğan muss bei der Volksabstimmung im April um die Mehrheit bangen. Für seine Gegner ist das wohl die letzte Chance, ihn zu stoppen.
Der Slogan von Erdoğan hat eine klare Message: Wer im April gegen die neue Verfassung stimmt, ist gegen die Nation, gegen das Vaterland und ein Verräter an Fahne und Staat. Erdoğan und sein Ministerpräsident Binali Yıldırım haben schon während der laufenden Abstimmung im Parlament im Januar keine Gelegenheit ausgelassen, potenzielle Nein-Sager in die Nähe des Terrorismus zu rücken. Die PKK sage Nein, donnerte Yıldırım bei diversen Auftritten, und die (oppositionelle) CHP tue es ihr gleich. „Natürlich sagen wir Ja, wozu die Terroristen Nein sagen.“
Als Erdoğan am Sonntag zu einem Kurztrip nach Bahrein und Saudi-Arabien startete, setzte er am Flughafen noch eins drauf und sagte: Nein-Sager seien, genauso wie die Putschisten vom 15. Juli, Feinde des Volkes.
Selbst für AKP-Wahlkämpfe ist diese Tonlage schrill. Sie verrät vor allem eins: Bei der Abstimmung geht es für Erdoğan um alles und er ist sich überhaupt nicht sicher, dass er gewinnen wird. Erdoğan will sich mit der neuen Verfassung umfassende exekutive und legislative Kompetenzen verschaffen. Die Bedeutung des Parlaments soll stark eingeschränkt werden. Auch in Bezug auf die Justiz wird die Gewaltenteilung ausgehebelt.
Monatelange Hexenjagd
Eine Mehrheit der Bevölkerung, selbst unter den AKP-Wählern, hat in den letzten Jahren, in denen Erdoğan für eine entsprechende Verfassungsänderung geworben hatte, nie eingesehen, warum eine solche „Reform“ notwendig sein soll. Nach allen Umfragen, die bislang bekannt geworden sind, ist das trotz Putschversuch, Ausnahmezustand und der monatelangen Hexenjagd gegen die Opposition immer noch so. Gäbe es eine faire Wahl, bekäme Erdoğan maximal 44 Prozent.
Deshalb hat er drei Wochen gezögert, die im Parlament bereits am 21. Januar beschlossene Verfassungsänderung zu unterschreiben, um so den Termin für die Volksabstimmung hinauszuschieben. Jetzt werden alle staatlichen Ressourcen für die Ja-Kampagne mobilisiert und Leute, die für ein Nein werben, kriminalisiert.
Plakatkleber der Nein-Kampagne wurden festgenommen, ein bekannter Fernsehmoderator, İrfan Değirmenci, der in privaten Tweets erklärt hatte, warum er für „Nein“ stimmen wird, wurde gerade vor zwei Tagen von seinem Sender Kanal D gefeuert. „Es ist zwar nicht offiziell verboten, mit Nein zu stimmen“ schrieb der Kolumnist Murat Yetkin, „aber es gehört Mut dazu, sich zum Nein zu bekennen“.
Trotzdem sind die Aktivisten für das Nein voller Hoffnung. Die schlechten Umfragewerte Erdoğans beflügeln sie. Das Wissen darum, am 16. April die letzte Chance zu haben, den Weg in eine Diktatur zu stoppen, mobilisiert die Leute.
Von Haus zu Haus
Weil die Massenmedien ausschließlich für Erdoğan trommeln, will die CHP einen Wahlkampf von Haus zu Haus machen und bekommt viel Unterstützung dafür. Außerdem können die Nein-Sager davon ausgehen, dass sie viele heimliche Unterstützer haben.
„Erdoğan hat sich in den letzten 15 Jahren auch in seiner eigenen Partei viele Feinde gemacht“, sagt ein Nein-Aktivist. „Die werden jetzt ihre Chance wahrnehmen. Am 16. April geht es nicht um Parlamentssitze, es geht nicht um die Partei, es geht nur um Erdoğan. Da werden dann Rechnungen beglichen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste