Serie Über Rassismus reden: Es ist Zeit, sich zu verschwören

Identitätspolitik ist politische Notwehr. Schon immer wurden Rechte erstritten, indem Menschen sich in ihrer Benachteiligung solidarisierten

Illustration Zigarettenschachtel

Wenn es um Identität geht, geht es in erster Linie um Existenz Foto: Xueh Magrini Troll

Als ich letztes Jahr einmal in Dresden am Bahnhof stand, um, ordnungsgemäß in einem gelben Quadrat stehend, zu rauchen, näherte sich mir ein älterer Herr. „Ja ja, die Ausländer“, raunte er. „Nur die Ausländer rauchen.“ Als ich ihn darauf hinwies, dass ich deutscher Staatsbürger sei, meinte er: „Klar, aber kein richtiger“, und verschwand.

Ich überlegte, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) den Warnhinweis „Rauchen gefährdet Ihre Integration“ vorzuschlagen. In Wien wurde ich schon als Asylant bezeichnet, in Berlin als Schmarotzer. Der Clou bei allen drei Begegnungen: Ich musste mich zu keinem Zeitpunkt dazu bekennen, schwarz zu sein.

Die Denkmuster und Gesetze der Gesellschaft arbeiten gegen Menschen of Color. Diese sind in ihr Nicht-weiß-Sein hineingeworfen: Dass Nichtweiße eine Erfindung weißer Identitätspolitik sind, lässt die Realität, die Wirksamkeit der Verhältnisse unberührt. Es ist deswegen nichts anderes als politische Notwehr, aus dieser Einsicht emanzipatorische Identitäten zu entwickeln.

Es geht ums Fressen

Ob nun der African National Congress und das Ende der Apartheid oder die Suffragetten und das Frauenwahlrecht; seit jeher wurden Rechte von Menschen erstritten, die sich zunächst in ihrer Benachteiligung miteinander solidarisierten und aus der Gruppe heraus ihre gemeinsamen Interessen durchsetzten. Dabei ging es nicht um Moral, sondern ums Fressen. Und davor noch darum, existieren zu dürfen. Denn auch wenn der Humanismus sich nachträglich mit den Errungenschaften dieser Kämpfe schmücken mag: sie sind nicht ihm zu verdanken.

Im Gegenteil waren ursprünglich nur weiße Männer gemeint, wenn vom Menschen und seinen Rechten die Rede war. Um genau dieses Mitgemeintsein, diese Menschwerdung geht es. Die Alternative? Unsichtbarkeit. Sprachlosigkeit.

Am deutlichsten wird dies am Beispiel des Feminismus. Die Suffragetten etwa erkämpften das Wahlrecht nicht für alle Frauen. Nichtweiße mussten sich noch Jahrzehnte gedulden. Auch in seiner sogenannten zweiten Welle war der westliche Feminismus nach wie vor ausschließlich weiß. Der Anspruch, daraus ein universelles Befreiungskonzept abzuleiten, muss scheitern. Ohne ihre Verdienste in Abrede stellen zu wollen: Was weiß eine Alice Schwarzer schon von der Lebensrealität, den Bedürfnissen von Frauen of Color?

Mehr als bürgerliches Klein-Klein

Die Notwendigkeit, die Gleichzeitigkeit sozialer Kämpfe zu würdigen, setzte sich erst mit dem Aufkommen der dritten Welle in den neunziger Jahren und der Rezeption nichtweißer Feministinnen wie Audre Lorde durch. Für den Umstand, dass sich diese Kämpfe überschneiden können, prägte Kimberlé Crenshaw den Begriff der Intersektionalität. Eine schwarze Frau etwa ist Diskriminierungserfahrungen ausgesetzt, die weder schwarze Männer noch weiße Frauen machen; in ihrer Person kreuzen sich Rassismus und Sexismus.

Seither hat sich viel getan. Der intersektionale Ansatz hat in feministischen Zusammenhängen – und darüber hinaus – unter anderem die politische Selbstermächtigung von Menschen mit Behinderung erleichtert und zur Anerkennung von Geschlechteridentitäten jenseits des Mann-Frau-Gegensatzes beigetragen. Nun gab es schon immer linke Stimmen, die diese Formen der Emanzipation für moralisches, bürgerliches Klein-Klein halten („Haha, Transgendertoiletten!“) und zugunsten der vernachlässigten sozialen Frage ausblenden wollen. Hier wird zweierlei sträflich außer Acht gelassen.

Erstens geht es auch bei Identitätspolitik zuvörderst um Antworten auf die soziale Frage; wir erinnern uns, es geht um Existenz. Zweitens ist niemand frei, solange nicht alle frei sind: Die soziale Frage kann nur von links geklärt werden, wenn wir pluralistisch denken.

Wir erleben dieser Tage eine reaktionäre Renaissance, die ihrerseits den Klassenkampf sucht – jedoch von oben. Dazu werden Umvolkungsszenarien und Verteilungskämpfe gegen eine „fremde Gefahr“ zusammenfantasiert. Glaubt man Trump, besteht diese Gefahr aus Globalisierung, mexikanischen Migrant_innen und dem Islam. Höcke sieht den sozialen Frieden in Deutschland „durch den Import fremder Völkerschaften“ bedroht. Das funktioniert nur so gut, weil an die Stelle von Klassenbewusstseins – selbst Identitätspolitik avant la lettre – ein weißer Ethnonationalismus gerückt ist. Mut zu Deutschland. Im Klartext: Wir zuerst. Die Volksgemeinschaft wird zurückbeschworen und im selben Atemzug ihr Lebensentwurf als einzig schützenswerter propagiert. Gesegnet sei die Kernfamilie, Brutkasten der Nation.

Ein Narrativ der Angst

Das ist ein Angriff auf alle, die für eine Gesellschaft der Teilhabe einstehen. Wer diese verteidigen will, darf keinen Schritt zurückweichen. Es ist fahrlässig, rechtspopulistischen Ar­gumenten hinterherzuhecheln, wie manch Spitzenpolitiker_in es tut. Beispielsweise die Linke Sahra Wagenknecht mit ihren Äußerungen über verwirkbares Gastrecht; oder der Grüne Boris Palmer, der Verständnis für Professoren hat, die sich angesichts von Asylunterkünften um ihre blonden Töchter sorgen; oder die SPD, die 2014 damit Wahlkampf machte, dass nur mit ihr ein Deutscher Präsident der EU-Kommission werden könne. Damit beschränkt man sich auf einen Diskurs, dessen Rahmen von rechts bestimmt wird.

Um dem Narrativ der Angst eine eigene Vision entgegenzusetzen, genügt es nicht, die Rechte als hetzerischen Haufen ins Abseits zu stellen. Vielmehr muss deutlich gemacht werden, dass der eigentliche Verteilungskampf nicht unten, sondern oben stattfindet. Nicht zuletzt, weil im Windschatten der reaktionären Gesellschaftspolitik Konzessionen an die Oberschicht vorbereitet werden. Ein Blick in den Programmentwurf der AfD: Steuererleichterungen für Unternehmer_innen, Sozialabbau, Privatisierungen.

Eine linke Gesamtoffensive muss also mehr Klassenkampf wagen und eine Plattform für alle Gruppen sein, denen durch den Aufstieg der Rechten der erneute Ausschluss droht. Für alle, die nicht in das Weltbild eines Fünfziger-Jahre-Prospekts passen. Für alle, die bisher zu wenig gehört werden, weil wir Mehrheitsverhältnisse mit Daseinsberechtigung verwechseln. Die Gleichzeitigkeit der Kämpfe bedeutet eine Gleichzeitigkeit von Strategien. Das gilt es auszuhalten.

Die Revolte

Und hat sich Identitätspolitik als Grundlage dieser Kämpfe nicht abermals bewährt? Eine Absage an sie wäre nicht nur ahistorisch, sondern unsolidarisch und spielte obendrein dem Backlash in die Hände. Dabei brauchen wir nichts mehr als Solidarität in Wort und Tat, einen Schulterschluss auf Augenhöhe. Denn weder Empathie noch Grundgesetz noch Parlamente allein werden uns retten.

Im Virginia des Jahres 1663 organisieren sich in Schuldknechtschaft stehende Weiße und versklavte Schwarze, die gemeinsam auf den Tabakplantagen von Gloucester County schuften, um gegen ihre Ausbeutung aufzubegehren. Die Revolte scheitert – wie jede gute Geschichte durch einen Verrat. Es dauert nicht lange, bis aus Schuldknechten Aufseher werden. Im Grunde werben die Rechtsnationalist_innen heute mit dem Versprechen von Aufseherposten. Wir hingegen wollen die uneingeschränkte Gleichstellung aller Menschen. Was nach Einzelinteressen aussieht, sind Wege, die gemeinsam zum Ziel führen.

Höchste Zeit also für eine neue, intersektionale Glouces­ter-Verschwörung. Ihren Leitspruch hält James Baldwin bereit: „The victim who is able to articulate the situation of the victim has ceased to be a victim: he or she has become a threat.“ Auf geht’s. Lasst uns wieder gefährlich werden.

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