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„Berlin ist nur ein Halbhegemon“

EUROPA Der britische Deutschlandexperte Hans Kundnani über Martin Schulz, die Tragik der deutschen Außenpolitik und die Parallelen von 2016 mit der Zeit nach 1871

Die Achse Schulz/Merkel arbeitet, François Hollande ist außen vor Foto: Wiktor Dabkowski/picture alliance

Interview Martin Reeh

taz: Herr Kundnani, die SPD debattiert, ob sie Martin Schulz als Kanzlerkandidaten nominieren soll, der als großer Europäer verkauft wird. Ist er das?

Hans Kundnani: Ich sehe keinen großen Unterschied zwischen ihm und Gabriel, was Europa angeht. Und ich sehe auch keinen großen Unterschied zwischen SPD und CDU in der Europapolitik. Die SPD-Europapolitik ist eine der großen Enttäuschungen seit Beginn der Eurokrise. 2010 haben Steinmeier und Steinbrück noch öffentlich über eine Vergemeinschaftung der Schulden nachgedacht. Aber danach haben sie gemerkt: Die Angst vor einer Transfer-Union ist in Deutschland so groß, dass sie die Position realpolitisch gar nicht vertreten können.

Schulz plädiert für einen „vertieften Bund souveräner Staaten“ – das ist eine Umschreibung für „mehr Europa“.

Eine meiner Frustrationen mit der Debatte über Europa in Deutschland ist dieses lineare Denken: Entweder ist man für mehr Europa oder weniger. Ich sehe in Deutschland aber vor allem einen „Pro German Europeanism“. Das heißt: Man ist proeuropäisch, will aber ein deutsches Europa. Man ist zu weiteren Integrationsschritten bereit, aber nur nach deutschem Vorbild.

Die gängige Erzählung im europäischen Süden ist die von der deutschen Hegemonie durch die Eurokrise. Sie sagen, es ist viel problematischer: Deutschland sei nur ein Halbhegemon – und damit in einer ähnlichen Situation wie nach der Reichsgründung 1871.

Das hat – bei allen Unterschieden zwischen dem Kaiserreich und jetzt – zunächst einmal mit der Geografie zu tun. Deutschland liegt mehr oder weniger immer noch dort, wo es damals war, und hat seit der Wiedervereinigung mehr oder weniger die gleiche Größe wie damals. Deutschland ist wieder in der Mitte Europas. Wenn die Geografie noch eine Rolle spielt …

Tut sie es denn? Es gibt doch keine deutschen Minderheiten mehr im Ausland, die jemand „Heim ins Reich“ holen will.

Ich glaube nicht, dass die deutsche Frage nur eine Form haben kann. Im Kaiserreich war die deutsche Frage eine geopolitische Frage, jetzt ist es eine geo-ökonomische. Deutschlands wirtschaftliche Macht schafft auf ähnliche Weise Instabilität in Europa wie damals seine militärische Macht. Die deutsche Frage und die europäische Frage hängen wieder eng zusammen.

Sie sagen, Deutschland sei nicht groß genug, um ökonomisch in Europa Frieden zu stiften, also etwa Schulden des Auslands mitzutragen, aber andererseits so groß, dass es durch seine Interessen den Kontinent dominiert.

Ja, es ist zu groß für eine Art Gleichgewicht und zu klein für eine Hegemonie. Nach 1871 hätte Hegemonie bedeutet, alle anderen Großmächte militärisch schlagen zu können. Jetzt würde sie heißen, entweder brutal den eigenen Willen in ganz Europa durchzusetzen oder die europäischen Probleme zu schultern. Die Eurokrise hat gezeigt, dass Deutschland zu beidem nicht in der Lage ist. Deutschland hat seine Interessen gegen Mario Draghi und seine Niedrigzinspolitik nicht durchsetzen können. Deutschland kann aber auch kein guter Hegemon sein …

.. wie die USA nach 1945 …

… also eine Vergemeinschaftung der Schulden zulassen, eine moderate Inflation dulden oder permanente Fiskaltransfers bezahlen – also all die Dinge, die die EU zusammenhalten könnten. Für beide Varianten der Hegemonie, die brutale wie die sanfte, muss man die Ressourcen besitzen. In der klassischen deutschen Frage ging es um militärische Ressourcen, um andere Großmächte schlagen zu können. Jetzt hat Deutschland nicht die wirtschaftlichen Ressourcen für eine Hegemonialpolitik. Insofern verteidige ich die Deutschen gegen die angelsächsische Kritik etwa von Paul Krugman, die lautet: Die Deutschen haben keine Ahnung von Wirtschaft.

Wenn die deutsche Europolitik rational ist, kommen wir aus der Krise kaum heraus.

Ich sehe die Krise in Europa und die deutsche Rolle darin als etwas sehr Tragisches. Es gibt keine einfache Lösung – und deswegen bin ich auch ziemlich pessimistisch, was die Zukunft Europas angeht. Es gibt aber neben der objektiven Lage auch eine zweite Parallele mit der deutschen Geschichte: der Stimmung nach der deutschen Einheit 1871.

Die deutsche Überheblichkeit?

Ja, Triumphalismus – und Sendungsbewusstsein: Deutschland habe eine Mission in Europa, die anderen auf den richtigen Pfad zu führen.

Die deutsche Elite ist heute so international wie nie zuvor. Warum berücksichtigt sie die Sichtweisen der anderen nicht?

Es gibt eine seltsame Mischung aus Internationalismus und Provinzialismus in der deutschen Debatte. Deutschland ist vor allem seit der Eurokrise immer entspannter geworden ist, was Kritik aus dem Ausland angeht. Früher war Deutschland überempfindlich. Vor allem, wenn Kritik aus Großbritannien, den USA und Frankreich kam. Die Deutschen wollten bestätigt werden …

… nach 1945 alles richtig gemacht zu haben?

Das habe ich als Brite so empfunden. Damals wünschte man sich, dass die Deutschen ein bisschen selbstbewusster werden und nicht so sehr darauf achten, was andere über sie denken. Jetzt ist es umgekehrt. Vielleicht hat das mit dem Irakkrieg angefangen, nach dem die Deutschen gedacht haben: Wir wissen es besser.

Foto: GMF
Hans Kundnani

Jahrgang 1972, ist Senior Transatlantic Fellow beim German Marshall Fund in Washington. Im Frühjahr erschien sein Buch „German Power. Das ­Paradox der deutschen Stärke“ (C. H. Beck Verlag, 18,95 Euro).

Die deutsch-französische Achse ist doch auch gebrochen.

Ja. Es erschreckt mich, wie in Berlin seit Beginn der Euro-Krise über Frankreich gesprochen wird.

Zum Beispiel?

Ich möchte hier kein wörtliches Zitat wiedergeben, aber manche hochrangigen deutschen Beamten oder Thinktank-Mitarbeiter reden geradezu mit Verachtung über die Franzosen: Sie finden sie lächerlich oder einfach dumm. Die Franzosen hätten keine Ahnung und müssten diszipliniert werden.

Weil Deutschland bis 1914 Halbhegemon gewesen sei, hätten sich Allianzen dagegen gebildet, schreiben Sie. Heute hätten sich Italien und Frankreich von ihren Interessen her sich längst gegen Deutschland verbünden müssen.

Die Lehre aus der Geschichte ist zweideutig. Heißt sie: Man muss solche Koalitionen bilden – oder dass solche Koalitionen zu Krieg führen? Wenn man die klassische deutsche Frage nimmt …

… hat Deutschland durch antideutsche Koalitionen die Kriege verloren.

Insofern sind wir alle bezüglich der Koalitionsfrage gespalten. Auch Franzosen und Italiener und Spanier. Sie haben Angst davor. Ich auch. Ich fürchte, dass antideutsche Koalitionen Europa zerstören. Ich sehe aber den strukturellen Druck zur Koalitionsbildung – und dann hätte ich lieber gesehen, dass Renzi und Hollande eine antideutsche Koalition bilden als die Fünf-Sterne-Bewegung und Le Pen.

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