: „Ich bin hier die verlässliche Person“
SOS-KinderDorf II Kinderdorfmutter Christine Müller über die Trennung von Beruflichem und Privatem
45, staatlich anerkannte Erzieherin, arbeitet seit elf Jahren als SOS-Kinderdorfmutter in Berlin. Davor bereits im SOS-Kinderdorf in Worpswede tätig. Pendelt zwischen Berlin und ihrem Zuhause in der Nähe von Bremen.
taz: Frau Müller, was ist Ihre Rolle als Kinderdorfmutter?
Christine Müller:Ich bin die verlässliche Person hier, diejenige, die am meisten und am längsten da ist. Das wissen die Kinder auch, und es hat für sie eine gewisse Selbstverständlichkeit. Ansonsten ist es immer ein bisschen Spagat. Man muss gucken, dass man einigermaßen gut mit den Eltern zusammenarbeitet und sie mit einbezieht, sodass man nicht in Konkurrenz miteinander gerät, sondern jeder einen unterschiedlichen Part übernimmt. Sie gehen zum Beispiel mit zu Elterngesprächen in der Schule, wir machen hier regelmäßig Elterngespräche oder laden die Eltern manchmal zu Veranstaltungen ein.
Was ist, wenn der Elternabend auf Ihren freien Tag fällt?
Dann gehen meine Kolleginnen hin, die sind genau so involviert, das mache nicht nur ich allein. Wenn ich nicht da bin, macht eine meiner Kolleginnen Vollvertretung und ist dann auch 24 Stunden da. Meistens arbeite ich sieben oder acht Tage am Stück und mache dann vier Tage frei.
Fühlt sich das an wie zwei Leben?
Nein, nicht zwei Leben, aber ich wohne mit meinem Lebensgefährten in der Nähe von Bremen, und wenn ich dort bin, ist es tatsächlich mehr Privatleben. Von den Kindern kriege ich dann eher übers Handy mit, was sie machen, wenn sie mir Bilder oder Nachrichten schicken. Bei Bremen wohnen auch meine Eltern, um die ich mich ein bisschen kümmere, meine Familie und Freunde. Und ich bin nicht in Berlin – das habe ich mir auch bewusst so eingeteilt.
Warum?
Es ist ganz gut, auch räumlichen Abstand zu haben. Dann wissen die Kinder, dass ich nicht schnell noch mal eben kommen kann und was regeln, sondern dass sie warten müssen.
Vieles besprechen die Kinder dann doch lieber nur mit Ihnen?
Bei einigen Dingen warten sie schon, um das mit mir zu besprechen. Aber ich bespreche mit meinen Kolleginnen viel im Team, größere Entscheidungen treffen wir gemeinsam. Schwappt denn der Beruf oft ins Private rein?
Das geht schon sehr stark ineinander über. Zum Beispiel habe ich die Kinder auch schon mit zu meinen Eltern genommen, wir haben dort Urlaub gemacht und gezeltet, und meine Eltern waren auch hier zu Besuch. Ich erzähle viel von meinen Eltern, meinen Freunden oder meinem Bruder. Die Kinder erzählen ja auch von ihrer Familie, und ich kann nicht von ihnen verlangen, sich zu öffnen, wenn ich selbst nichts preisgebe, das wäre ja merkwürdig.
Was ist, wenn die Eltern Entscheidungen treffen, bei denen Sie denken, das geht nicht gut – und eigentlich nichts dagegen tun können?
Bei manchen Entscheidungen denkt man tatsächlich, ob das jetzt sein muss … Das ist dann schwierig. Aber zum Glück sind die meisten Eltern gesprächsbereit und hören zu, was man für Bedenken hat, und überlegen es sich vielleicht auch anders.
Warum haben Sie sich dazu entschlossen, Kinderdorfmutter zu werden?
Ich habe drei, vier Jahre in dem Kinderdorf in Worpswede als Erzieherin gearbeitet, dort viel Vollvertretungen gemacht und mich dann entschlossen, es als Kinderdorfmutter in Berlin zu versuchen. Berlin hat mich damals gereizt, und ich fand auch, dass man als Kinderdorfmutter eine besondere Beziehung zu den Kindern hat. Ich kann es nicht genau definieren, aber das ist noch mal etwas anderes, als wenn man nur im stationären Bereich arbeitet und kommt und geht.
Und wie haben Sie die Stadt kennengelernt? Mit sechs Kindern konnten Sie ja wahrscheinlich nicht dauernd sagen, ich zieh jetzt noch mal los oder gehe heute Abend aus?
Zum einen kann ich mir zweimal im Monat einen Babysitter suchen, und zum anderen sind die Kinder tatsächlich ziemlich viel mit mir unterwegs gewesen. Wir waren im FEZ, haben uns ins Auto gesetzt und sind einfach mal in einen anderen Park gefahren. Auch die Gedenkstätte Bernauer Straße kann man sich gut mit Kindern ansehen. Und einmal sind wir mit den Rädern zum Schlosspark Charlottenburg, so als Kolonne, da waren die Kinder fix und fertig, als wir beim Spielplatz ankamen. So haben wir eine Menge kennengelernt von Berlin. Und die Kinder haben mir gezeigt, wo das Schwimmbad ist – und das Kino.
Sie nennen das Leben im Kinderdorf „familienanalog“, also so nah wie möglich am Familienleben, trotzdem bleibt es ja ein Arbeitsverhältnis. Wie gehen Sie damit um?
Mir ist es sehr wichtig, dass die Kinder gut hier rausgehen, mit einem guten Start ins Leben. Dass sie einen Schulabschluss bekommen zum Beispiel, das wünsche ich mir auf jeden Fall. Es tut mir auch weh, wenn es nicht so klappt. Und es fällt schwer loszulassen, gerade bei Kindern, die so lange da waren. Ich brauche dann ein bisschen Zeit, um mich auf etwas Neues einzulassen, und muss mich erst mit dem Gedanken anfreunden. Das ging bei Stefan ganz gut, weil er relativ früh angekündigt hatte, er wolle jetzt ausziehen. Der Umzug hat sich dann ein bisschen hingezogen, er war noch viel da, wir haben das Ganze begleitet. Wir haben auch ein paar Rituale dafür, zum Beispiel machen wir ein großes Abschiedsessen für die, die ausziehen. Sodass klar ist: Ihr gehört noch immer dazu.
Wie viel Kontakt haben Sie noch zu den größeren Kindern?
Bei uns sind drei größere Kinder ausgezogen. Wir haben zu allen dreien noch Kontakt, zum Teil übers Handy, oder per E-Mail, sie kommen auch zum Essen oder so vorbei, oder wir verabreden uns. Stefan kommt demnächst und hilft mir, den Tannenbaum aufzubauen. Normalerweise macht das mein Lebensgefährte, der kommt aber dieses Jahr erst am 24., und das ist mir zu spät. Ich habe an Weihnachten auch Geburtstag, und wir machen das meist so, dass wir alle gemeinsam essen gehen, und da werde ich auch die Ehemaligen einladen, alt und neu mischen.
Feiern Sie Weihnachten immer hier in der Kinderdorffamilie?
Heiligabend bin ich immer da und in der Regel auch mein Lebensgefährte. An Silvester wechseln wir uns ab, meine Kolleginnen und ich, aber an Feiertagen und gerade an Heiligabend finde ich es wichtig, dass ich als Kinderdorfmutter da bin. Das ist schön, um Familiengefühl und Gemeinschaft zu erleben. Auch wenn es immer ein bisschen hektisch ist – wie ja eigentlich überall.
Interview Uta Schleiermacher
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