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Ostsee Es ist noch dunkel, wenn Maik Never in seinen Kutter springt und rausfährt aus Rerik. Genau so, wie es in Alfred Anderschs Roman steht, den alle nur „Sansibar“ nennen und der heute aktueller ist denn jeDer letzte Grund

Aus dem Ostseebad RerikAnnabelle Seubert (Text) und Mathias Königschulte (Fotos)

Durch die Nacht fliegen Möwen, die Ostsee ist schwarz. „Ganz gut, was?“, sagt der Fischer, Maik Never heißt er, und nickt Richtung Bug. Er schaut auf sein Meer und hört die Geräusche: das Rauschen von Wasser, das Röhren des Motors. „6,5 Knoten, 2.200 Umdrehungen pro Minute.“

Leg’ die Schoten fest.

Kurz vor drei Uhr hat Never seinen Kutter gelöst, die Seile von drei Pfosten gewickelt, „RERIK“ steht am Heck. Er ist an Bord gesprungen, zwischen Container und verknotete Netze, dort hat er Kisten gestapelt, grüne, gelbe; er hat den Zündschlüssel gedreht und an der Luft gerochen – Salz und Benzin. Der Fischer hat das Wetter gerochen: „Wird eher ruhig heute“, sagt er, „ru-iech“, Mecklenburgisches Singsang-Platt. Never, 47, dunkelblond, junges Gesicht. Im Dorf heißt er: Käpt’n.

Seit gut dreißig Jahren fischt er, immer schon vor Rerik, entlang der Ufer. Er ist einer der letzten vier Fischer in diesem Ort, in den die Touristen fast nur im Sommer kommen. Um ihre Strandmuscheln aufzustellen, Coladosen zu öffnen, auf den Eiswagen zu warten. Um Volleybälle im FKK-Abschnitt zu werfen, „drei zu zwei!“, „hartes Match.“ Sie kommen nach Rerik, hoch an die Küste, um über Kies in die Wellen zu wanken oder zur Sonne zur schauen: klarer Himmel.

Und sie kommen, weil Rerik ein Rätsel ist. Schauplatz dieses Buches, das lange Schulstoff war, Sansibar oder der letzte Grund. Alfred Andersch hat es hier spielen lassen, vor den Dünen, im Schilf. An der Kaimauer. Bis heute, heißt es, schafft Andersch – der 1980 verstarb – die Touristen ran. In Rerik vergleichen sie Roman und Wirklichkeit, Seite 25: die Weiden, die Koppeln, von schwarz-weißen Kühen und von Pferden gefleckt, dann die Stadt, dahinter das Meer.Die Stadt war zum Staunen.

Ist es so, wie er schreibt? Düster wie in Sansibar? Diesem nebligen, zweifach verfilmten Stück Literatur.

Das Buch: 1937, im Herbst, treffen am Hafen ein Kommunist, ein Pfarrer und eine Jüdin aufeinander. Der Kommunist und die Jüdin wollen nach Schweden übersetzen, Rerik war eine Falle. Gemeinsam schleppen sie eine Skulptur von Barlach – „entartete Kunst“ – mit auf das Boot, von dem sie sich Rettung erhoffen: Ein Fischer und sein Junge sollen sie über die Ostsee bringen.

Anderschs Geschichte ist eine über den Überlebenswillen, die vom Bleiben-Möchten und Gehen-Müssen erzählt, den Ängsten innerhalb der Diktatur: der Angst vor den Nazis, den Rechten, den Anderen. Rerik ist in der Geschichte die Bühne – möglich, die licht stehenden Kiefern als Vorhang anzusehen –, das Meer eine bewegte Materiemasse. Ob sie geeignet war, eine Flucht zu tragen?

Wie war das mit „Sansibar“ in der DDR? Erst nach der Wende hat Maik Never von „Sansibar“ gehört, dem Roman über seine Küste. „Als alle aus dem Westen ­kamen“, durch Rerik liefen, „den Andersch in der Hand“. Davor, sagt er, „war hier DDR – und Flucht als Thema tabu“

Das Meer, Seite 143: aufgewühlt von den Böen. Mit Wellen, Seite 148: die sich wie unter einem Peitschenschlag winden. Ultramarinblau und eisig. Seite 67: Leg’ die Schoten fest, wir kriegen Wind.

Ist es so, wie er schreibt?

„Im Winter: klar!“, ruft Maik Never in der Gischt. Er hat sich Gummistiefel und die Fischerhose übergezogen, gelb und ölig wie seine Jacke, und allmählich die Seemeilen verringert. Hat den Kutter gleiten lassen, sachtes Herumkriechen mit dem Boot am Buksand. Never ist raus aus dem Haff, wo rechts, steuerbord, die Halbinsel Wustrow wie ein langes, dunkles Tier liegt. Und links, backbord, „Wismar“ – unsichtbar.

„Hab das Buch spät gelesen“, sagt er im Ruderhaus, wo er sitzt und lenkt – den Kompass und einen Bildschirm im Blick, der anzeigt, was unter ihm liegt. Seegräser, Fischschwärme. Tiefe: 5 Meter.

Erst nach der Wende hat Never von Sansibar gehört, dem Roman über seine Küste. „Als sie alle aus dem Westen kamen“ und durch Rerik gelaufen sind, „den Andersch in der Hand“. Davor, sagt er, „war hier DDR – und Flucht als Thema tabu. Andersch hätte das Herrschaftsbild gestört.“

Rerik war nicht romantisch, man wurde hier erwachsen.

Never gähnt, die Nacht vergeht nicht. „Ist mir zu früh zum Reden“, sagt er und holt trotzdem aus: Wie sein Vater, „zur Adolfzeit noch bei der Kriegsmarine“ – „die waren die Größten, wie sie nach dem Krieg aus Amerika zurückkamen, Seesäcke auf den Rücken, Zigaretten und Kaugummi darin“ – wie sein Vater ihm geraten hat, „erst mal ’nen vernünftigen Beruf zu erlernen“, bevor er Fischer wird. Wie Maik gleich die Küstenfischerei von ihm übernommen hat, nach der Schlosserlehre. Wie sehr er seither für den Job lebt, aber kaum was dabei rumkommt. Weil die großen Betriebe die ganzen Schwärme einsacken.

Seine Politstorys erzählt Never auch – in Sätzen, die nicht ganz fertig sind: Von den Kontrollpunkten in den Häfen des Regimes. Wie sie ihm in Warnemünde immer in die Kabine geleuchtet haben, Luke auf, Taschenlampe rein. „War alles Sperrgebiet. Ab 22 Uhr durfte keiner mehr zum Strand.“

Es gab die Schwimmer und die Paddler, Fluchtversuche auf Matratzen. Gesunkene, Ertrunkene. Befehle, durch die Nacht geschrien. Den Kollegen, der es geschafft hat: Familie an Bord versteckt, Glück gehabt. „Ab nach Schweden.“ Man mußte weg sein. Man mußte raus.

Es gab seinen Nachbarn, den Parteisekretär. Und Maik, der im Jugendzimmer mit Musik rebelliert hat. „Udo Lindenberg“, den hörte er so laut und lange, bis der Nachbar klingelte. „Stell das sofort ab!“

Damals, sagt Maik Never, hätte er – Jungpionier bei der FDJ – gern „dreißig Länder in fünf Tagen bereist“.

Der Mississippi wäre das Richtige.

Herrgott noch mal, dachte er, Sansibar und Bengalen und Mississippi und Südpol.

In Rerik war überhaupt nichts los.

Und heute, und jetzt?

Never hat den Punkt erreicht, an dem er seine Netze mit „Fahnen“ markiert hat – im Wasser stehende Wegweiser, 54°03.347°N. Feinmaschige Netze für den Steinbutt, großmaschige für den Dorsch. Ihren „Brotfisch“, der – obwohl der Dorsch draußen steht – quotiert werden soll. Schon jetzt darf Never nur knapp acht Tonnen im Jahr reinholen. „Was soll das?“ Mit der Linken richtet er den Kurs aus, mit der Rechten zieht er die Maschen durch den Netzholer; durch zwei Rollen, die den Spalt zwischen sich vergrößern, sobald ein Fisch durch ihn drängt. Never zieht und zieht, stoppt alle zehn Sekunden für einen Dorsch, und die Kiemen der Fische pumpen noch. Flossen zappeln, Nerven zucken. Blut fließt unter Pupillen, Münder reißen auf.

Never sieht nicht hin und holt den nächsten Fisch. Er trennt Algen und Krebse von den Maschen, die schleudert er zurück ins Wasser. Längst kleben Klumpen an seinen Handschuhen – von den Quallen. Ihr dickflüssiger Rest ist wie Schleim.

Und heute, wie ist die Küste da?

„Verseucht, von der AfD übernommen“, sagt er.

„Protestwähler“ seien das Anfang September gewesen, meint er, die sein Bundesland Mecklenburg-Vorpommern wieder in die Schlagzeilen gebracht hätten, „negativ“. Die den Ausgang der Landtagswahlen zu verantworten hätten. 18 Sitze für die AfD in Schwerin, sechzig Kilometer südlich. 46,8 Prozent in Peenemünde, hundertsechzig Kilometer östlich. In Rerik: 20,9 Prozent.

Never fährt über den Rücken eines Steinbutts, sanft, als wolle er sich entschuldigen. „Der Steinbutt ist stachlig, die Flunder glatt.“ Er sagt: „Ich hoffe im Stillen, dass die Bundestagswahl anders ausfällt.“ Nächstes Jahr, 2017.

Anderschs Roman erschien 1957 – und spielt 1937. Ich bin in etwas Unausdenkbares geraten, schrieb er darin. Man kann alles richtig machen und dabei das Wichtigste versäumen.

Kann man das auch über Rerik sagen, Fischer Never?

„Schon.“ Dass zwei syrische Familien dort leben, erzählt er, und dass seine Frau beim Ausfüllen der Asylanträge und beim Deutschlernen geholfen hat. Noch Wochen nach den Wahlen lagen die AfD-Plakate auf den Gehsteigen, zerrissen und zerknickt, „Grenzen sichern“, „Asylchaos beenden“ – direkt vor der Kirche, in der die Nevers geheiratet haben.

„Gehen Sie da mal hin und gucken“, hat Maik Never gesagt und mit drei Messerstichen einen Dorsch aufgeschlitzt: links unterm Kopf, rechts unterm Kopf, den Bauch von unten nach oben. Er hatte die Gedärme noch im Griff, als die Möwen schon schrien, im Schwarm zum Schiff geschwirrt kamen; mit Gesichtern, die aus der Nähe ernst aussahen – wie die kleiner Eulen. Im Sturzflug haben sie nach den Kadavern geschnappt, die Never über Bord geworfen hat, und auch die übrige Arbeit ging glatt vonstatten: Sand flog, Miesmuscheln flogen. „Hat nicht jeder so einen Sonnenaufgang“, hat Never gesagt, da war der Horizont ein roter Streifen. Der Motor spuckte erst ein paarmal, kam dann langsam auf Touren, sie wendeten das Boot, so daß es in Fahrtrichtung kam – und dann, zurück an Land, das Wasser lief hier flach ans Ufer – war Tag. Acht Uhr. „Moin, Käpt’n!“

Ein Stück weg vom Hafen, im Dorfkern: der Kirchplatz. Vollkommene Einsamkeit herrscht dort bei Andersch, es gab nichts Leereres, bloß die braunroten Backsteine der Kirche, braunes Rot, schieferfarbenes Rot. In echt kommt hier jetzt aber ein Mann die Rosenbüsche entlang, Gießkanne unterm Arm. Sein T-Shirt: rot. Dass er Rentner ist, „aus den alten Bundesländern“, sagt er. „Seit neun Jahren in Rerik“, „seit Jahren in der SPD.“ Ehrenamtlicher in der Gemeinde. Er gießt, was noch zu gießen ist. Ob er noch weiß, wann er Sansibar gelesen hat?

„Sicher“, er überlegt nicht. „Nach dem Abitur, das war berührend.“ Ja? „Ja, die historischen Bezüge!“ Die Bedrohung von rechts, der Irrsinn des Dritten Reichs, „all das“. Windschwarz und Verrat.

Der Rentner verrät nicht, wie er heißt, und stellt seine Gießkanne nicht ab, eigentlich will er weiter. Sagt noch, dass er die Bundestagswahl 2017 fürchtet, und Politikverdrossenheit „gepaart mit DDR-Nostalgie“ nicht nur in Rerik spürt. Diesem Feriendorf, seinem Wahldorf, in dem die Häuser Namen tragen, „Henriette“ und „Rosita“ an Fassaden steht. In dem die Eisdiele am Haffplatz mit einem schwarz-rot-golden hinterlegten Schriftzug wirbt: „Unser Land, unser Eis“.

„Aber wie kann man Leuten Verklärung vorwerfen?“, fragt der Rentner. Selbst wenn sie etwas zurückwollten, das sie nie hatten.

Sansibar ist aktueller denn je“, sagt dann ein anderer, fünfzig Meter entfernt: der Leiter des Heimatmuseums auf der gegenüberliegenden Straßenseite – Thomas Köhler im gestreiften Hemd. Sein erstes Andersch-Exemplar bekam er 1986 vom Pastor zugesteckt. „War zu DDR-Zeiten nur unter der Hand zu kriegen“, sagt er, am Tresen stehend, an dem Stadtkarten und Flyer ausliegen. „Wegen Gregor, der Figur, die mit ihrer kommunistischen Partei hadert.“

Haß gegen die Partei, weil sie versagt hatte.

Das Drohszenario, die Abwanderung, sagt Köhler. „Die Frage: Geh ich oder bleib ich? Vieles wiederholt sich.“ Manche in Mecklenburg hätten Angst gehabt, dass es nicht zur Großen Koalition reicht. Er hingegen glaubt, „dass es jetzt schlimmer wird – bevor es wieder besser wird“. Vielleicht weil er Historiker ist und glaubt, „Geschichte funktioniert wie ein Pendel. Wenn das einmal ausgeschlagen hat, dauert es, bis es sich einpendelt.“

Flaschenschiffe, Postkarten und ausgestopfte Zwergseeschwalben hat er im Museum, Seesterne hinter Glas – und oben das Sansibar-Zimmer, eine Fotoausstellung „Auf den Spuren des Romans“. Aufnahmen von Andersch am Strand gibt es da, Buchcover und Zitate zur Ansicht: Wenn der Wald zu Ende war, würde man die Stadt und die Küste erblicken. Seite 8.

Gibt es Rerik noch ohne Sansibar?

Na ja, sagt Köhler: Im Sommer kämen die Andersch-Touristen täglich. Schulklassen von weither, aus England oder Frankreich. Und Mal für Mal müsse er dann erklären, dass sie die sechs Türme im Dorf gar nicht zu suchen bräuchten, die Alfred Andersch in Sansibar benennt. Weil die Innenstadt, die er beschreibt, ganz eindeutig eine andere sei: Wismar. „Nur spielt seine Geschichte an einem Tag und in einer Nacht. Er wollte seine sechs Figuren auf engem Raum zusammenbringen und hat den Plot deshalb nach Rerik verlagert.“ Aber der Ruhm schade ihnen hier ja nicht! Köhler grinst.

Von diesen Türmen war nichts zu erwarten.

Draußen, ein paar Alleen weiter, führt ein Waldweg runter zum Ostseebad. Vorbei an einem Kiosk mit Fischbrötchen, Strohhalmen und Zigarettenstummeln im Sand. Mückenschwärme, Glitzern, Glänzen, das Meer eine blaue Wand. Fischer Never ist längst wieder draußen und legt Netze aus. Hast Gegenwind, wird ’n Stück Arbeit werden für dich. Guten Fang.

In der anderen Richtung, ein paar Alleen weiter, führt eine Straße runter zum Supermarkt. Vorbei an der Sparkasse und einem Laden für Bootszubehör und Anglerbedarf. Drin steht die Verkäuferin, den Telefonhörer in den Nacken geklemmt. Neben ihr steht ein Kunde mit Hosenträgern, ein Leberkäsbrötchen in der Hand. Als wäre die Zeit stehen geblieben – als habe er auf irgend etwas gewartet, aber es kam nicht.

Haben Sie Sansibar oder der letzte Grund gelesen?

Der Kunde lässt das Brötchen sinken. „Wer jetzt, wir?“

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