Konferenz zu Kindesmissbrauch: Das Schweigen brechen
Rund 13.500 Anzeigen gab es 2015. In Berlin kommen am Freitag und Samstag Betroffene zu Workshops und Vorträgen zusammen.
Sie ist 13 oder 14 Jahre alt, häufig allein zu Haus, manchmal sogar wochenlang. Damit fühlt sie sich überfordert und sucht Halt in der Kirche. Der evangelische Pfarrer, damals doppelt so alt wie sie, sorgt dafür, dass sie in ein Internat in Bayern kommt, in seine Nähe. In der angeschlossenen Schule arbeitet er auch als Religionslehrer. Das Mädchen ist ihm dankbar für sein Engagement: So ist es weg von der desolaten Familie, ohne von ihr komplett getrennt zu sein. Und es gibt jemanden, der sich um sie kümmert, der die familiäre Leerstelle füllt. Dafür verlangt der Mann eine sexuelle Gegenleistung.
Claus, heute 47 und Journalistin, ist eines von etwa einer Million Mädchen und Jungen in Deutschland, die sexuelle Gewalt erleben oder erlebt haben. Das sind ein bis zwei Kinder in jeder Schulklasse hierzulande, schätzt die Weltgesundheitsorganisation. Rund 13.500 Anzeigen wegen Kindesmissbrauchs verzeichnete die Polizeiliche Kriminalstatistik 2015.
Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, geht davon aus, dass die Dunkelziffer erheblich höher ist. „Es werden nur wenige Taten angezeigt, viele werden statistisch erst gar nicht erfasst“, so Rörig. Die Stelle war 2010 nach dem Bekanntwerden massenhafter Missbrauchsfälle vor allem in der katholischen Kirche, aber auch in Heimen und anderen Organisationen eingerichtet worden.
Opfer aus aller Welt
Um Opfern wie Claus zusätzlich eine Stimme zu geben, berief Rörig im März 2015 den Betroffenenrat ein, ein politisches Gremium, das Vorschläge für Gesetzestexte im Zusammenhang mit sexueller Gewalt und Präventionsansätze erarbeitet und Organisationen berät. Claus ist eins der 15 Mitglieder im Betroffenenrat.
Dessen erste große öffentliche Aktion ist ein internationaler Kongress von Opfern aus aller Welt: Am Freitag und Samstag treffen sich in Berlin rund 200 Missbrauchsopfer aus Deutschland, den USA, Polen, Großbritannien, Spanien, Nicaragua zu Vorträgen, Workshops, Gesprächsrunden.
Kerstin Claus, Betroffene
Kerstin Claus wird man unter anderem bei einem Workshop antreffen, der sich mit Entschädigungen von Opfern befasst. Seit Mai 2013 gibt es einen Hilfsfonds für Missbrauchsopfer in der Familie. Er bezahlt Krankengymnastik, Kuren, Psycho- und andere Therapien, falls die Krankenkasse nicht einspringt. Jetzt geht ihm das Geld aus. „Es kann nicht sein, dass Opfer nicht entschädigt werden, weil kein Geld mehr da ist“, sagt sie.
Sie selbst hat von der Kirche ein Schmerzensgeld bekommen, nachdem sie ihren Peiniger im Jahr 2003 angezeigt hat. Das dienstrechtliche Verfahren gegen den Pfarrer zog sich über Jahre hin, sie durfte keine Akten einsehen und wurde in ihrem eigenen Opferfall lediglich als Zeugin gehört. „Niemand hat mich während des Verfahrens jemals gefragt, wie es mir als Jugendliche ging und wie es mir heute geht“, sagt sie.
Keine strafrechtlichen Konsequenzen
Unabhängig davon kritisiert sie die mangelnde Transparenz der Kirchen bei der Aufarbeitung ihrer Missbrauchsfälle und den laschen Umgang mit den Tätern. Die Bischofskonferenz beispielsweise stoppte 2013 eine Studie, die sie selbst in Auftrag gegeben hatte. Bischöfe und die Forscher des beauftragten Kriminologischen Instituts Niedersachsen überzogen sich gegenseitig mit Vorwürfen: Aktenvernichtung, Zensur, mangelndes Vertrauen.
Mit dem Ausgang ihres eigenen Verfahrens ist Claus mehr als unzufrieden. Der Kirchenmann wurde nicht bestraft, weil es im Verfahren formale Fehler gab. Er wurde nur versetzt mit dem „Hinweis“, künftig zu Kindern und Jugendlichen „seelsorgerische Distanz“ zu wahren. Heute sind die Taten verjährt.
Über die Höhe des Schmerzensgeldes, das Claus von der Kirche bekommen hat, darf sie nicht sprechen. Sie darf nicht einmal sagen, ob die Kirche eine ihrer Therapien bezahlt hat. Claus sagt: „Transparenz sieht anders aus.“ Hätte sie sich dem Druck des Schweigens nicht gebeugt, hätte sie keinen einzigen Cent bekommen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss
Gerhart Baum ist tot
Die FDP verliert ihr sozialliberales Gewissen
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören