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Entschleunigte Linden

Verkehr Rot-Rot-Grün hat einen revolutionären Plan. Die Linden sollen Fußgängerzone werden! Der zweite Blick zeigt freilich: Busse und Pkws fahren weiter, nur weniger

von Claudius Prößerund Bert Schulz

Ein Schlagwort wird die verkehrspolitische Debatte in Berlin in den kommenden Wochen prägen: „Fußgängerzone“. Zu einer solchen will die künftige rot-rot-grüne Koalition angeblich den Boulevard Unter den Linden umbauen. Das allerdings stimmt so mit Sicherheit nicht. Aber immerhin ist das, was die TeilnehmerInnen der Verhandlungsrunde in der Nacht zum Samstag nach zwölfstündigen Gesprächen verkündeten, eine Weichenstellung weg von der autogerechten Innenstadt.

Man wolle die Linden „fußgängerfreundlich gestalten und den Individualverkehr reduzieren“, erklärte der amtierende Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD). „Ein tolles Prestigeobjekt für Berlin“, sekundierte Grünen-Fraktionschefin Antje Kapek. Dazu soll bis Ende 2017 eine Untersuchung in Auftrag gegeben werden. Laut Geisel besteht die Chance der Umgestaltung, wenn 2018 die oberirdischen Baustellen der U5 verschwinden. Bezahlen müsste einen Großteil der Maßnahmen wohl die BVG, deren umfangreiche Bautätigkeit den Durchgangsverkehr ohnehin schon seit Jahren auf rund ein Viertel reduziert – von 30.000 auf 8.000 Pkws täglich.

Es brummt weiter

Wie es aussieht, werden am Ende zwischen dem neuen Humboldt-Forum und dem Brandenburger Tor keine privaten Autos mehr über die Linden fahren dürfen. Davon, dass dort gar keine Motoren mehr brummen werden, kann aber nicht die Rede sein: Für Reisebusse, BVG-Doppeldecker, Taxis, Pkws mit Diplomatenkennzeichen und wohl auch den Lieferverkehr bleibt die historische Ost-West-Achse offen. Auch würde der ganz normale Verkehrsmix die vermeintliche Fußgän­gerzone an mindestens einer Stelle – der Friedrichstraße – queren.

Das will Rot-Rot-Grün außerdem

Baden in der Spree: SPD, Linke und Grüne haben sich für die Einrichtung des Flussbads Berlin ausgesprochen, also einer öffentlichen Badestelle auf der ­Museumsinsel, wahrscheinlich am Pergamonmuseum. Ein Verein hatte die Idee in den vergangenen Jahren vorangetrieben.

Erhalt von Kleingärten: Die derzeit noch rund 73.000 Datschen sollen bestehen bleiben. Zwar brauche Berlin Bauland, die Gärten seien aber wichtig für das Stadtklima, so die künftigen Koalitionäre. Da, wo sie Infrastruktur wie Schulen oder Kitas weichen müssten, sollen den Besitzern nahe gelegene Ersatzgrundstücke angeboten werden.

Umbau von Tempelhof: Die noch in den Hangars des ehemaligen Flughafens lebenden Flüchtlinge sollen in geeignetere Unterkünfte ziehen. Das gesamte Gebäude soll saniert und künftig kulturell genutzt werden.

Bürgerbeteiligung: Um Berliner frühzeitig etwa bei Bauprojekten in die Planung einzubinden, soll eine Onlineplattform eingerichtet werden. (bis)

Es war offenbar gerade die zu erwartende Zunahme von Reisebussen, die Geisels Verwaltung auf die Idee der Teilsperrung gebracht hat: Man rechne nach der Eröffnung des Humboldt-Forums mit jährlich 3 statt 1,5 Millionen Touristen in der Stadtmitte, so der Senator, „und die müssen ja auch wohin“. Dass allerdings auch die ausgesperrten Autos „wohin“ müssen, ist klar – sowohl auf der Leipziger Straße im Süden als auch der Torstraße im Norden dürfte es voller werden.

Während nun die Unternehmerverbände und die ins Abgeordnetenhaus zurückgekehrte FDP schon nach alter Manier über Autofeindlichkeit klagen, können sich die FußgängeraktivistInnen vom Verein FUSS e. V. freuen: Sie schlagen schon seit Jahren vor, die Linden endlich zu der „Flaniermeile“ zu machen, die sie bislang in den Reiseführern, aber eher nicht in der Realität ist. Ob ein Boulevard Unter den Linden mit einem breiteren Mittelstreifen und reduziertem Verkehr nun gleich das Flair der Ramblas von Barcelona entwickelt – auf die FUSS e. V. als Vorbild verweist –, das sei einmal dahingestellt.

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