: Ein bisschen Zärtlichkeit
Bedürfnisse Auch wenn Demenz-Patienten vieles vergessen, der Wunsch nach Nähe und das Verlangen nach Sex bleiben. Für die gesunden Partner ist es oft schwer, damit umzugehen
von Joachim Göres
Eine Frau ertappt ihren dementen Mann beim Onanieren. Der lässt sich durch ihre Anwesenheit nicht stören – denn durch die Demenz kann sich das Schamverhalten ändern. Die Frau ist schockiert, kann darüber lange nicht sprechen und wird depressiv, so beschreibt Wilhelm Stuhlmann einen seiner Fälle. „Eine Demenz gefährdet immer eine sichere Bindung“, sagt der Psychologe und Neurologe aus Erkrath.
Er weiß aus langjähriger Beratungspraxis, dass viele gesunde Partner von an Demenz erkrankten Personen nicht wissen, wie sie mit dem Wunsch nach Nähe umgehen sollen. „Es kann zu sexuellen Übergriffen durch den erkrankten Partner kommen, aber diese Fälle sind selten“, sagt er. Das viel größere Problem ist der Rückzug, das Einfrieren sexueller Kontakte, was zur Depression führen kann“, sagt Stuhlmann.
Bei Menschen mit Demenz geht die Hirnleistung zurück, Demenzkranke können ihre Umwelt nicht mehr angemessen erfassen, Vergangenheit und Gegenwart geraten durcheinander. Es gibt verschiedene Formen der Demenz und sie kann sich unterschiedlich ausdrücken: Manche Erkrankte verhalten sich apathisch, andere werden aggressiv, viele reagieren unruhig. Das Bedürfnis nach Liebe und Zärtlichkeit bleibt dabei bestehen – so das Ergebnis zahlreicher Studien.
„Zärtlichkeit und Schmusen können manchmal die Lösung bei häufigen Konflikten sein“, sagt Stuhlmann. Denn der demente Mensch habe oft Angst vor dem Alleinsein. „Erlebt er Nähe und Sicherheit, kann das zu weniger Provokationen führen“, sagt Stuhlmann.
Sexualiät ist auch in Altenpflegeeinrichtungen ein Thema. Der Psychologe berät auch Beschäftigte von Heimen. Pflegerinnen berichteten ihm vor allem über obszöne Sprüche von dementen Heimbewohnern, von Selbstbefriedigung und vom Ausziehen in der Öffentlichkeit sowie vom Busengrapschen.
„Das Personal begleitet Bewohner aus dem Speisesaal, wenn sie dort onanieren, das ist für die meisten Pflegerinnen kein Problem“, sagt Stuhlmann. Schlimm seien sexuelle Übergriffe. „Man muss in solchen Fällen klare Grenzen setzen und deutlich machen, dass das nicht geht“, sagt er. „Das versteht ein dementer Mensch in der Regel.“
Die verstärkte sexuelle Aktivität von Dementen kann eine Nebenwirkung von Medikamenten sein – darauf weist der Psychiater Hans Förstl hin. „Wenn sie abgesetzt werden, ändert sich das Verhalten wieder“, sagt Förstl, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der TU München.
Uta und Friedhelm Woecht beraten Angehörige bei der Celler Demenz-Initiative und leiten eine Selbsthilfegruppe. Dort treffen sich acht gesunde Partner oder ihre Kinder einmal im Monat, um über den Alltag zu reden oder ihre Trauer und ihre Wut mit Menschen zu teilen, die die Situation kennen. „Manchmal weint man auch miteinander, wenn Angehörige nicht mehr ein noch aus wissen“, sagt Friedhelm Woecht.
Je weiter die Demenz fortschreitet, umso mehr kann sich die Persönlichkeit des Betroffenen verändern. Das ist vor allem für den gesunden Partner schwer zu akzeptieren. „Wenn man versucht, den Kranken in die Wirklichkeit zu zwingen, kann ihn das aggressiv machen und für Streit sorgen“, sagt Uta Woecht. Für Enkelkinder sei das einfacher. „Die sehen, dass ihre Großmutter die Brille in den Kühlschrank legt und sagen nur: ‚Das macht die Oma halt so‘“, sagt Uta Woecht, die als Krankenschwester für einen ambulanten Pflegedienst arbeitet.
Ihr Mann schildert an einigen Beispielen das Bedürfnis nach Nähe: Ein Angehöriger sei dankbar dafür, dass er und seine erkrankte Frau im selben Bett schliefen, dass er sie sehen und anfassen könne und sie nicht in ein Pflegeheim müsse. Eine Frau freue sich, dass ihr Mann nun jeden Morgen nach ihrer Hand suche – vor der Erkrankung habe er das nicht getan, sagt Friedhelm Woecht.
Aber nicht nur Nähe, sondern auch neue Distanz käme vor, beschreibt Woecht. Eine ältere Frau empfände eine körperliche Abneigung gegenüber ihrem dementen Mann, seitdem er inkontinent sei. „Es gibt Fälle, da trennt sich der gesunde Partner vom Demenzkranken, weil er etwa die Aggressivität nicht mehr aushält“, ergänzt Uta Woecht. „Aber viele setzen sich bis zum Umfallen ein und leisten Unvorstellbares.“
Gudrun Hirsch leitet in Hannover eine Selbsthilfegruppe für Angehörige. Sie weiß, dass für viele gesunde Frauen keine sexuelle Beziehung mit einem Ehemann in Frage kommt, mit dem eine Partnerschaft auf Augenhöhe und eine vernünftige Kommunikation nicht mehr möglich sind. Für diese Haltung stünden Äußerungen wie „Ich habe noch sexuelle Bedürfnisse, aber das geht nicht mit einem Mann, der von mir abhängig ist“ oder „Ich bin eine Witwe mit Ehemann“.
Doch es gibt auch Versuche, durch gemeinsame Hobbys Nähe zu schaffen. Dazu können Radtouren gehören oder der Besuch eines Tanzkurses. Die Alzheimer-Gesellschaft Hannover bietet demenzkranken Menschen und ihren gesunden Partnern einen Malkurs an. Es treffen sich sechs Paare im Alter zwischen 58 und 71 Jahren regelmäßig im Projekt „Farbenfroh“ – die Männer sind dement, die Frauen nicht. „Die Männer sind mutiger beim Malen, sie gehen lockerer mit der Farbe um, sie schaffen kräftigere Bilder“, sagt Kursleiterin Alexandra Huth-Atamann. „Das bringt ihnen Anerkennung durch ihre Frauen ein und das tut den Männern gut.“
Stuhlmann bedauert, dass nur wenige gesunde Angehörige den Austausch in einer Selbsthilfegruppe suchen. Die Scheu, über negative Gefühle gegenüber dem erkrankten Partner wie Zorn, Wut, Angst, Scham und Ekel zu sprechen, sei groß – umso wichtiger sei es, mit den Gefühlen nicht allein zu bleiben, um nicht immer einsamer zu werden.
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