Abrechnung eines Ex-Grünen: „Sie verwalten nur das Bestehende“

Die Partei wolle regieren, aber nichts mehr verändern, kritisiert Robert Zion, einst Hoffnung der Parteilinken. Alternativen zum Kapitalismus würden nicht gesucht.

Fritz Kuhn und Winfried Kretschmann stoßen mit riesigen Bierkrügen an

Dort angekommen, wo der Blick auf die Unterschicht fehlt: Stuttgarts Bürgermeister Fritz Kuhn und Winfried Kretschmann auf der Cannstatter Wasen Foto: dpa

taz: Herr Zion, was hat Sie dazu gebracht, aus den Grünen auszutreten?

Robert Zion: Das war ein langer Entfremdungsprozess. Irgendwann weiß man dann halt, dass es sich nicht mehr lohnt. Über ein Jahrzehnt habe ich mit etlichen anderen Grünen versucht, Mehrheiten für eine progressive, emanzipatorische, sozialere und friedlichere Politik zu gewinnen. Inzwischen bin ich überzeugt davon, dass das unmöglich geworden ist. Damit jedoch wäre jeder weitere Kampf in der Partei eine Vergeudung von Energie, die für die Erringung linker gesellschaftlicher und politischer Mehrheiten jedoch so dringend nötig ist.

Was hat den Ausschlag für Ihre Entscheidung gegeben?

Mit dem Wahlerfolg der Grünen in Baden-Württemberg im März ist etwas ins Rutschen geraten, was sich nicht mehr aufhalten lässt. Ich sehe mich nicht mehr dazu in der Lage, den eingeschlagenen Weg der Partei in den liberal-konservativen Mainstream der Republik mit meinem Namen zu vertreten. Der „Point of no Return“ zur Abänderung dieses Kurses ist personell, strukturell und in der faktisch verfolgten Politik jetzt endgültig überschritten.

Also ist Winfried Kretschmann schuld?

Nein, er ist nur die Personifizierung einer Entwicklung. Die Grünen sind ursprünglich angetreten, um diese Republik in einem emanzipatorischen Sinne zu verändern. Doch von diesem Anspruch ist so gut wie nichts mehr übriggeblieben. Sie haben verlernt, die Machtfrage zu stellen – und haben sich darin eingerichtet. Ihnen geht es nur noch darum, am Verwalten des Bestehenden beteiligt zu sein.

Was meinen Sie konkret?

Die Grünen bieten nur noch die bessere, weil vermeintlich klügere Verwaltung im bestehenden kapitalistischen Rahmen an. Den Rahmen selbst können und wollen sie nicht mehr verändern, obwohl dieser unsere natürlichen Lebensgrundlagen und unseren sozialen Zusammenhalt immer noch nahezu ungebremst zerstört. Dabei haben uns Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, Jeremy Corbyn in Großbritannien und auch Bernie Sanders in den USA gezeigt, dass es möglich ist, die Menschen mit progressiven Ideen zu begeistern. Diese Versuche der Erneuerung der Demokratie auf Bewegungsbasis begreift das Establishment der deutschen Grünen überhaupt nicht.

50, machte nach dem Hauptschulabschluss zunächst eine Ausbildung zum Koch und kam über den zweiten Bildungsweg an die Uni Kassel, wo er Philosophie, Soziologie, Erziehungswissenschaften und Sozialwesen studierte. Von 2008 bis 2011 war er Sprecher des grünen Kreisverbands in Gelsenkirchen und von 2012 bis 2014 Mitglied des Landesvorstands der Grünen NRW.

Aber war das nicht auch schon so, als Sie 2003 in die Grünen eingetreten sind?

Ich bin damals in den Kreisverband Gelsenkirchen eingetreten mit dem Gedanken: Das darf ja wohl nicht wahr sein! Den Kurs der rot-grünen Bundesregierung besonders in der Wirtschafts- und Sozialpolitik hielt ich für grundfalsch. Dagegen wollte ich etwas tun. Ich hatte tatsächlich der Vorstellung im Kopf: Wenn etwas schief läuft, muss man sich engagieren – und zwar in seinem Beritt, und der war für mich grün. Ich bin ja kein Sozialist. Meine ideologische Grundüberzeugung war schon immer linksliberal.

Außerdem war und ist für mich die Verbindung der sozialen mit der ökologischen Frage von zentraler Bedeutung. Den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen halte ich für eine politische Schlüsselfrage. Öko ist nicht einfach etwas, was noch irgendwie dazukommt. Da hielt ich die Grünen für das richtige Betätigungsfeld. Vielleicht waren meine Vorstellungen, was sich in dieser Partei bewegen lässt, illusionär. Aber ich habe es halt versucht.

Im vergangenen Jahr haben Sie sich sogar noch als Spitzenkandidat der Grünen für die nächste Bundestagswahl angeboten. War das nur ein Gag?

Das Angebot war ernst gemeint. Aber es gab keine Unterstützung mehr von Leuten, von denen man einfach Unterstützung braucht. Ich habe ja ein bisschen Erfahrung damit. Als ich 2007 mit Teilen der Basis den Sonderparteitag in Göttingen zum deutschen Afghanistaneinsatz durchgesetzt habe, waren viele Leute als Mitinitiatoren oder Unterstützer dabei, die heute im Bundestag sitzen, Minister, Landesvorsitzende oder Fraktionsvorsitzende in den Ländern sind. Das, was man Führungsreserve nennt, war damals auf unserer Seite. Und jetzt, als ich meine Bereitschaft zur Spitzenkandidatur erklärt habe, war da nichts mehr.

Wie erklären Sie sich das?

Da gibt es mehrere Erklärungen. Zunächst ist da die persönlich-individuelle Ebene: Man darf ja nicht vergessen, dass die Grünen weniger Mitglieder haben als Schalke 04. Eine Partei, die relativ klein ist und die so viel mitregiert auf Kommunal- und vor allem Landesebene, bei der entstehen Abhängigkeitsverhältnisse. Da gibt es dann die Kosten-Nutzen-Abwägung: Ist es meinen Ambitionen zuträglich, jetzt noch mal mit einem zu gehen, der schon wieder gegen die Parteinomenklatura antritt? Das ist nicht unbedingt karriereförderlich.

Aber es gibt noch eine weitere, grundsätzlichere Ebene: Der linke Flügel der Grünen ist völlig in der Defensive. Fixiert auf das Mitregieren, beschränkt er sich darauf, das Schlimmste verhindern zu wollen – im Zweifel sogar in einer Koalition mit der Union. Das Führungspersonal der Parteilinken hat nur noch eine Verhinderungsperspektive, aber keinen Veränderungsanspruch mehr. Das ist mir zu wenig. Und deswegen war ich ein Störer.

„Was ist denn noch in einem fortschrittlichen Sinne grün an der Regierungspolitik Winfried Kretschmanns?“

Könnte die fehlende Unterstützung nicht auch daran liegen, dass der Kretschmann-Kurs der erfolgversprechendere ist?

Woran bemisst sich Erfolg? Es gibt ein schönes Zitat von Willy Brandt: „Es hat keinen Sinn, eine Mehrheit für die Sozialdemokraten zu erringen, wenn der Preis dafür ist, kein Sozialdemokrat mehr zu sein.“ Was ist denn noch in einem fortschrittlichen Sinne grün an der Regierungspolitik Kretschmanns? Er vollzieht die Rückkehr der einst abtrünnigen Rebellen der Post-68er in den Schoß des liberalkonservativen deutschen Bürgertums.

Vom maoistischen K-Grüppler hat er sich zu einem Repräsentanten jenes traditionellen provinziell-konservativen Südwest-Liberalismus transformiert, für den die Welt am eigenen Vorgarten endet – da sind sich die ehemaligen Ökolibertären der Südwestgrünen mit den US-Libertären sehr ähnlich. Die Freiheit, die diese wie auch Kretschmann meinen, ist eine rein wirtschaftsliberale. Also auch die von Heckler & Koch, Waffen in alle Welt zu liefern. Förderung des deutschen Mittelstands nennt sich das dann.

Was haben Sie denn anderes erwartet?

Ich habe von Kretschmann nichts anderes erwartet. Aber was sich geändert hat: Inzwischen gibt es keinen ernstzunehmenden Widerstand gegen seinen Kurs mehr. Es gibt hier und da noch ein Grummeln, mehr aber nicht. Was die Grünen in Baden-Württemberg machen, erscheint vielmehr als Blaupause für den Bund. Ich finde das erschreckend in Zeiten wie diesen, die angesichts des Vormarschs der Rechten brandgefährlich sind.

Was hätten Sie denn als Alternative anzubieten?

Wir erleben eine soziale Spaltung in der Gesellschaft, obwohl die Produktivität weiter wächst. Man hat mittlerweile eine Schicht in der Gesellschaft, die ist einfach politisch, ökonomisch, sozial und von der Bildung her abgehängt. Die wird immer größer. Das heißt, die Gesellschaft polarisiert sich. In einer solchen Situation muss man sich als bürgerliche Partei, die die Grünen soziokulturell von Anfang an waren, entscheiden: Will man ein Teil eines Mitte-unten- oder eines Mitte-oben-Bündnisses sein? Ich befürchte, die Entscheidung ist bei den Grünen gefallen, und zwar zugunsten der falschen Seite.

Geht es auch etwas weniger abstrakt?

Wir müssen erkennen, in welcher Situation wir uns befinden. Der Aufstieg der Rechten umfasst mittlerweile von den USA über Europa bis Russland nahezu den gesamten Raum der ehemaligen Systemkonkurrenz. Die sich selbst so nennende „Mitte“ ist gegen diesen Aufstieg der Rechten nahezu wehrlos. Sie ist es deshalb, weil sie zwar vorgibt, offene Gesellschaften und die liberale Demokratie zu verteidigen, aber in ihrer konkreten Politik nur Marktverhältnisse ausweitet. Die Zukunft unserer liberalen Demokratien und offenen Gesellschaften entscheidet sich darum an der Verteilungsfrage und an der sozialen Frage.

Klingt wie ein Satz fürs linke Poesiealbum.

Es gibt eine Hegemonie der angebotsorientierten Politik mit ihren Dogmen der Deregulierung, der Austerität und des Freihandels im Dienste der sogenannten Globalisierung, also der internationalen Aufstellung des Kapitals. Diese Hegemonie führt mittlerweile zu einer politisch gewollten Zerstörung unserer sozialen Basis. Sie hat Regionen geschaffen, die vollständig abgehängt sind, wo es kaum noch Arbeit, soziale Infrastruktur und Lebenschancen gibt, in West Virginia genauso wie eben auch in Mecklenburg-Vorpommern. Die Gesamtlinke muss dieser demokratiegefährdenden Entwicklung etwas entgegensetzen. Es ist ganz einfach: Wenn rechte Parteien hochkommen, dann hat die Linke versagt in der Ansprache der Menschen, in der Vertretung derer, die sie eigentlich vertreten müsste.

Was folgt daraus?

Wir müssen zunächst mit allen Mitteln einen Rückfall in die Furien des Nationalismus verhindern. Dafür braucht es eine Erneuerung der europäischen Idee von unten, eines Zusammenführens emanzipatorischer Bewegungen und Parteien von Griechenland bis Großbritannien, von Skandinavien bis Spanien über gemeinsame Ideen, Forderungen und Ziele: einen europäischen Bürgerverfassungskonvent, echte Gewaltenteilung in der EU, Bankentrennung, Ende der Austerität und Investitionen in die soziale Infrastruktur, in die Umwelt und in Bildung, eine europäische Arbeitslosenversicherung, ein Grundeinkommen für alle, einen europäischen Verbund erneuerbarer Energien, Abrüstungs- und Entspannungsinitiativen und noch einiges mehr.

Wechseln Sie jetzt zur Linkspartei?

Nein, was soll ich da? Aus der einen Partei auszutreten, um dann in eine andere Partei einzutreten, wo du 50 Prozent der gleichen Probleme wiederfindest, das wäre wirklich albern.

Es soll aber schon Angebote geben, wie man hört.

Sicherlich gibt es sympathische Menschen in der Linkspartei. Einzelne Personen kenne ich ganz gut und bin auch mit vielen in einem Austausch. Mit Katja Kipping teile ich beispielsweise die Forderung nach einem garantierten Grundeinkommen. Bei ihr bin ich mir auch sicher, dass sie einfach konkret möchte, dass es den Leuten, die sie vertritt, besser geht. Da hat sie sich in der Sozialpolitik immer für eingesetzt.

Aber meine Hauptwahrnehmung ist doch zwiespältiger. Manchmal höre ich aus der Linkspartei auch so Verelendungstheorien: Es muss erst alles den Bach runtergehen, dann kommt die Revolution – bis dahin kannst du das eh alles vergessen und wir bleiben lieber in der Opposition. Das sind einfach Salon-Sozialisten, die haben sich ihre Theorien angeeignet und ausdiskutiert, ohne irgendeine Ahnung vom realen Leben zu haben. Und zum Schluss haben sie nicht mehr zu bieten als den traditionssozialistischen Standardsatz, Futur II: Wir werden schon immer Recht gehabt haben. Auf der anderen Seite gibt es dann „Reformer“, die die Frage eventueller Regierungsbeteiligungen nicht nach inhaltlichen Kriterien beantworten, sondern für die das olympische Motto gilt: Dabeisein ist alles. Das kenne ich schon zur Genüge aus den Grünen.

Sie bleiben also parteilos?

Eine Partei ist einfach nicht mehr der Rahmen, den ich für effektiv halte, um Politik so zu gestalten, wie ich mir das vorstelle. Ich bin aber überzeugt davon, dass sich viel politisch entwickeln wird – und vielleicht auch etwas ganz Neues. Es gibt plötzlich Dissidenten wie Yanis Varoufakis, die ganz ähnlich denken wie ich und europaweite Initiativen wie DiEM25 starten. Es gibt Intellektuelle wie Ulrike Guérot, die mich faszinieren. Es gibt interessante postoperaistische Ansätze, wie die von Antonio Negri und Michael Hardt, die in ihren Analysen wirklich bestechend sind. Es passiert schon was. Bernie Sanders hat recht: „Wenn wir zusammenstehen, dann gibt es nichts, was wir nicht erreichen können.“

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