: Erdoğan zeigt sich von EU-Warnungen unbeeindruckt
Allianz Die ultranationalistische MHP unterstützt die Einführung der Todesstrafe. Damit wird der Weg frei für ein Referendum über eine Verfassungsänderung
Präsident Erdoğan
Einmal angekommen, wiederholte sich das Ritual, das aus anderen Treffen zwischen Volk und Führer mittlerweile bekannt ist: „Wir wollen die Todesstrafe“, „Wir wollen die Todesstrafe“, skandierte die Menge laut. Derweil zeigt sich Erdoğan immer geneigter, diesen Rufen Gehör zu schenken.
In seiner Antwort an die Menge fragte Erdoğan: „Warum sollte ich sie (die Putschisten) auf Jahre hinweg im Gefängnis halten und füttern?“ Er nahm damit Bezug auf einen bösen Satz von Kenan Evren, jenen General, der sich im September 1980 an die Macht putschte und bis 1989 Staatspräsident der Türkei war. Kritikern der Todesstrafe hatte er nach dem Putsch entgegengehalten: „Sollen wir diese Typen etwa noch durchfüttern statt sie zu hängen.“ Das würden die Leute heute wieder sagen. „Soll ich das ignorieren?“, fragte der Präsident.
Vier Jahre nach dem Putsch, also im Jahr 1984, wurden die letzten Todesurteile in der Türkei vollstreckt, 2004 wurde die Abschaffung der Todesstrafe dann in der Verfassung verankert. Putschisten hätten es aber nicht verdient, weiter am Leben zu bleiben, meint Devlet Bahçeli, Chef der ultranationalistischen Partei MHP. „Wenn Erdoğan und die AKP die Todesstrafe wiedereinführen wollen“, sagte er gestern, „werden wir nicht zurückstehen“. Mit den Stimmen der MHP kann Erdoğan im Parlament noch nicht die für eine Verfassungsänderung nötige Zweidrittelmehrheit erreichen. Für die 330 Stimmen, die er braucht, um über die Wiedereinführung der Todesstrafe eine Volksabstimmung durchführen zu lassen, würde es aber reichen. Die Mahnungen aus Brüssel und Berlin, das Spiel mit der Todesstrafe würde den Beitrittsprozess zur EU automatisch beenden, machen jedenfalls auf AKP und MHP erkennbar keinen Eindruck. Wer ist schon die EU, um sich dem Willen des Volkes in den Weg zu stellen?
Auch mit dem anderen großen westlichen Partner des Landes verschärfen Erdoğan und seine Regierung unterdessen den Konflikt. Mit allen Mitteln will Erdoğan erreichen, dass die USA den 75-jährigen Fethullah Gülen, der seit 1999 in den USA im Exil lebt, an die Türkei ausliefern. Bislang hat die Obama-Administration dieses Verlangen immer kühl zurückgewiesen. Auch jetzt hat Außenminister John Kerry seinem türkischen Kollegen Mevlüt Çavuşoğlu ausgerichtet, erst wenn die Türkei stichhaltige Beweise vorlege, könnten die US-Regierung und die zuständigen Gerichte sich damit befassen. Erdoğan wirft Gülen vor, der Anstifter des fehlgeschlagenen Putsches vom letzten Freitag zu sein. Justizminister Bekir Bozdağ kündigte im Sender CNN-Türk an, man werde den USA vier Dossiers schicken, in denen die Beweise gegen Gülen und seine Bewegung zusammengefasst seien. Eine türkische Expertenkommission ist schon in Washington eingetroffen. Ministerpräsident Binali Yıldırım legte gestern verbal noch eins drauf: „Wir werden ihnen mehr Beweise liefern, als ihnen lieb ist“.
Derweil gehen die Säuberungen in den türkischen Institutionen weiter. Neben weiteren Festnahmen im Militär wurden gestern über 250 Mitarbeiter aus der Verwaltung des Ministerpräsidentenbüros entlassen. Das Bildungsministerium suspendierte mehr als 15.000 Beamte.
Jürgen Gottschlich
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