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„Die Aggressivität des Fußballs verschwindet“

Der Pianist Stephan von Bothmer vertont Fußballspiele live mit der Kirchenorgel. Ein Gespräch über EM-Spiele als Progrock-Opern zwischen Chopin und Deep Purple, Liebesszenen auf dem Feld und zweitaktige Spielweisen, die ein Tor ankündigen

In einem Match „steckt die ganze Welt der Emotionen“, sagt von Bothmer Foto: Steffen Roth/Agentur Focus

INTERVIEW Jens Uthoff

taz: Herr von Bothmer, Sie vertonen EM-Spiele an einer Kirchenorgel. Wenn man zu Ihnen ins Fußballkonzert geht, was bekommt man da zu hören?

Carsten-Stephan Graf von Both­mer:Es klingt wohl in etwa wie eine Prog­rock-Oper mit klassisch romantischen Elementen – eine Mischung aus Pink Floyd, Deep Purple, Chopin, Beethoven und Bartók. Das sind alles Musiker, die ich liebe. Und wenn ich live komponiere wie bei diesen Fußballspielen, dann ist das natürlich alles mit drin.

Sie sind eigentlich Stummfilmpianist. Da kennen Sie die Handlung und können alles vorbereiten, beim Fußballspiel nicht. Wie machen Sie das während der Partien?

Ich habe auf dem Notenpult einen Flachbildfernseher stehen. Auf den schaue ich die ganze Zeit, denn es muss alles perfekt synchron sein. Ich gucke nie auf die Tasten, nur aufs Bild. Den Film wie beim Fußball gar nicht zu kennen ist natürlich eine ganz andere Situation für mich, ich muss ständig spontan reagieren. Und dann ist es beim Fußballmatch so, dass die Handlung im Verhältnis zu einer Filmhandlung extrem reduziert ist: eine Situation, ein Handlungsort, keine Szenenwechsel …

Fußball ist doch großes Drama!

Genau. Ich vergleiche es immer mit Bach. Bei Johann Sebastian Bach gibt es eigentlich keine so riesige Dramatik, wie es sie bei Wagner gibt, und trotzdem würden Bach-Fans sagen, in dieser reduzierten Form steckt die ganze Welt der Emotionen. So ist es beim Fußballspiel auch. Für den Musiker macht es das schwieriger, weil ich viel weniger plakativ sein kann als beim Stummfilm. Im Stummfilm gibt es zum Beispiel Liebes- und Verfolgungsszenen, die man entsprechend dramatisch vertont. Im Fußball gibt es auch Liebesszenen, aber die muss man erst finden. Sie äußern sich nicht so deutlich wie in normalen Filmen.

Wie laufen Ihre Konzerte ab?

Ich setze ein, wenn die Spieler auf den Platz laufen. Meist mit einem tiefen „oooooaaaaaaa“. Wenige Töne. Die Nationalhymnen spiele ich mit, das bereite ich vor. Das kriege ich nicht immer lippensynchron hin, weil ich den Anfang nicht höre. Danach ist alles offen.

Haben Sie gar nichts Vorgefertigtes? Zum Beispiel bei einem rüden Foul oder einem Elfmeter?

Klar, bei einem Elfmeter geht es darum, die Spannung aufzubauen. Diese paar Minuten vor dem Schuss sind ja total krass. Das versuche ich auszudrücken. Wie ich das mache, ist frei. Manchmal benutze ich auch Stücke, die es schon gibt. Wenn jemand zum dritten Mal foult, spiele ich zum Beispiel „Oops! … I Did It Again“. Aber es gibt nicht den Foulakkord oder so. Manchmal gelingt es mir, dass ich genau zum Foul in so einen Schmerzensakkord reingehe, weil ich das aus irgendeinem Grund gespürt habe.

Wie klingt ein Schmerzens­akkord?

Das sind Dissonanzen. Es hängt auch davon ab, wie ich gerade drauf bin. Wenn ich eh schon dramatisch spiele, muss ich bei einem heftigen Foul natürlich noch einen draufsetzen können – oder aber ich spiele die tiefe Verletzung ganz zart.

Welches Publikum kommt zu Ihren Konzerten?

Es gibt die EM- und WM-Gucker – die sind zahlenmäßig am stärksten vertreten. Es kommen aber auch die eingefleischten Fußballfans und sogar die Fußballverweigerer – die sieht man nie an anderen Public-Viewing-Orten. Die sagen: Das ist ja abgefahren, das schaue ich mir mal an. Und sind ganz begeistert, weil die Aggressivität des Fußballs bei meinen Konzerten irgendwie verschwindet.

Gibt ’s auch Leute, für die so ein Fußballkonzert nichts ist?

Nein, glaube ich nicht. Aber es ist ein Experiment fürs Publikum, etwas Ungewisses. Deshalb haben wir auch, als wir 2008 damit begannen, nur die Vorrundenspiele vertont: Die Leute sind bei einem sehr wichtigen Spiel wie dem Halbfinale oder dem Finale weniger experimentierfreudig. Inzwischen aber kennen viele das Format und kommen auch während der Finalrunde. Das gilt gerade für die ausgemachten Fußballfans, die sich dann den richtigen Kick geben wollen.

Wie ist die Stimmung bei Ihren Fußballkonzerten?

Das Publikum ist viel aktiver als bei anderen Public Viewings. Beim normalen Public Viewing sitzen die Leute recht ruhig da und gucken sich das Spiel an – der Sound, das Toben der Fans, kommt doch eher aus den Lautsprecherboxen. Bei meinen Konzerten machen die paar Leute, die da kommen, unglaublich Lärm. Es ist erstaunlich, wie die mitgehen, wenn es ihnen nicht vorgekaut wird. Vergleichbar vielleicht mit den Sitcoms, wo die Lacher mit auf der Tonspur sind. Da schmunzelt man auch nur mit. Aber man lacht nicht laut los.

Waren Sie der Erste, der Fußballspiele mit der Orgel vertont hat?

Ja, in der Form, dass es wirklich dramatische Filmmusik ist, die genau passt, macht es kein anderer. Es wird ja fast eine Oper, alles übersetzt in Musik, so emotional wie ein Kinofilm. Und so können das, wenn überhaupt, auch nur Stummfilmpianisten, die diese Situation kennen. „Normale“ Musiker haben dafür kein Gefühl. Deren Musik erschlägt das Bild oder nimmt gar keine Beziehung auf. Man muss aber hineinkriechen.

Wie entstand die Idee?

Ich vertone in der Emmauskirche in Kreuzberg seit langer Zeit Stummfilme. Der Kantor der Kirche, Ingo Schulz, und ich hatten den Gedanken, mal Fußballspiele mit der Orgel zu begleiten. Ich hatte Bedenken, weil er den Ton abstellen wollte. Das Bild ist beim Fußball nicht unbedingt das, was mich im ersten Moment packt, sondern der Sound aus dem Stadion; die Massen, die begeistert toben. Den Kommentar abzustellen fand ich okay – der nervt sowieso. Aber den Sound? Ich dachte, es funktioniert nicht.

Sie irrten?

Ja. Denn stattdessen wird das Publikum auf diese Weise ganz anders reingesaugt in so ein Spiel. Bei anderen Public Viewings geht es um die Identifikation mit einem Team und ums Gewinnen. Bei meinem Publikum geht es darum, zu gucken: Was machen die genau? Wie machen die das? Es gibt auch einen filmmusikalischen Trick dazu: Wenn ich bestimmte Töne extrem schnell spiele, dann wird das Gehirn so getriggert, dass dem Zuschauer das Bild wie in Zeitlupe erscheint. So fokussiert man den Blick auf bestimmte Sachen. Dadurch sehen die Leute mehr.

Was passiert, wenn das Spiel langweilig ist?

Für eine Weile kann ich es pushen durch dramatische Musik oder viel Aktionismus. Ich habe aber gemerkt, dass es besser funktioniert, wenn man ehrlich ist. Beim Stummfilm ist es auch so: Wenn der Film spannungsarm ist, sollte man nicht versuchen, ihn durch Musik zu dramatisieren. Ich kann nicht sagen, gleich passiert etwas, wenn gleich nichts passiert.

Carsten-Stephan von Bothmer

45, ist Pianist und vertont eigentlich Stummfilme am Klavier oder an der Orgel. Zur EM 2008 hat Bothmer erstmals Fußballspiele vertont – statt des Kommentars komponierte er live auf dem Klavier oder der Kirchenorgel synchron zum Spielgeschehen, seither gibt er „Fußballkonzerte“. Der gebürtige Niedersachse hat noch drei Auftritte während des Turniers: In der Berliner Emmauskirche (Lausitzer Platz, Kreuzberg) am 25. 6., 20.45 Uhr (Achtelfinale), 6. 7., 20.45 Uhr (Halbfinale) und 10. 7., 20.45 Uhr (Finale). In Passau/Zwiesel wird von Both­mer das Viertelfinale vertonen (Dampfbierbrauerei, 2. 7., 20.45 Uhr). (jut)

Kann man sagen, es gibt Spielweisen, die sind einfacher zu vertonen als andere?

Das nicht unbedingt, aber man kommt zu erstaunlichen Erkenntnissen beim Spielen. Ich habe es bei einer Partie mal so gemacht, dass ich mit jeder Ballannahme die Musik etwas geändert habe, die Melodie oder den Rhythmus. Was ich dann festgestellt habe: Wenn alle zwei Takte jemand den Ball annimmt, dann fällt auch ein frühes Tor für diese Mannschaft oder sie erspielen sich zumindest eine große Torchance. Kürzlich bei England gegen Russland war es wieder ganz deutlich: Ich hatte kurz vor dem Ende das charakteristische zweitaktige Passspiel bei den Russen bemerkt. Und ich hatte wieder recht, in der Nachspielzeit ging der Ball rein. Zufall war dieses Tor also sicher nicht.

Das heißt, man kann daraus auch taktische Erkenntnisse gewinnen?

Ja. Die Spieler sagen ja auch: „Wir sind nicht in den Rhythmus gekommen.“ Mich hat auch schon mal der Manager von Dirk Nowitzki angerufen – der macht viel mit Spielrhythmus und Analysen. Er hat gefragt, ob ich nicht Basketballspiele vertonen könne – er hat sich Erkenntnisse davon versprochen. Dann hat er mir aber so viele Basketball­videos geschickt, dass ich nicht dazu gekommen bin, sie zu vertonen.

Wie gut kennen Sie sich mit Fußball aus?

Nicht so gut (lacht). Aber die Räume, in die man auf dem Feld spielen und vordringen kann, muss man schon bemerken, um Szenen vorherzusehen. Wenn ich überhaupt keine Ahnung hätte, wäre es schwieriger.

Vertonen Sie lieber spanisches Tiki-Taka oder britischen Tempofußball?

(überlegt) Ich fände es von der Haltung her schwierig, wenn ich sage: Ich vertone lieber diese Art zu spielen. Für mich geht es darum, zu verstehen, wie ein Spiel funktioniert. Wieder analog zum Stummfilm: Da muss man zum Beispiel verstehen, wie die Figuren ticken. Beim Match muss man verstehen, nach welchen Mechanismen das Spiel funktioniert. Und wie ich das dann in Musik übersetzen kann.

Es gibt Figuren, die unglaublich polarisieren, man denke an Zlatan Ibrahimović oder Cristiano Ronaldo. Gehen Sie darauf ein, wenn Ronaldo mal wieder eine Himmelsanbetung vornimmt?

Wenn ich so etwas vorher erahne, dann kann man schon mal spontan einen „heavenly chord“ einstreuen. Und wenn so etwas passiert wie der berühmte Schulterbiss von Luis Suárez, dann würde ich darauf natürlich reagieren. Das fand ich so kacke, das hätte ich vertont.

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