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Beim Nähen sind alle gleich

Integration In der Nähwerkstattim Neuköllner Nachbarschaftshaus „elele“ können Migrantinnen beim Nähen Deutsch lernen und erhalten Tipps zum Umgang mit einer Gesellschaft, die sie zum Teil ablehnt

Aylin, Tochter von Nejmye, arbeitet dieses Mal an einer Jeans Fotos: Dagmar Morath

von Peter Weissenburger

Deutsch ist für Leyla Beren vor allem eins: frustrierend. Seit 14 Jahren lebt die 41-jährige Türkin in Deutschland, die meiste Zeit hat sie sich davor gedrückt, die neue Sprache zu lernen. Inzwischen geht es besser. Beren spricht leise und vorsichtig, hat Angst, Fehler zu machen, aber ihr Deutsch ist fließend. Der Grund dafür, dass Beren ihre Ehrfurcht vor der kniffligen Sprache verloren hat, ist ausgerechnet ein Nähkurs.

Im Neuköllner Reuterkiez steht das Nachbarschaftshaus „elele“. Während draußen junge Kreative ihre Macbooks auf schiefen Tischen aufklappen, versammeln sich im „elele“ Leyla Beren und rund ein Dutzend andere Frauen zwischen 15 und 55 Jahren, bewaffnet mit Stoffen, Garn und Schnittmustern. Jeden Mittwoch treffen sie sich hier zum Nähen und Deutschlernen. Auf dem Flur spielen Kinder kreischend Tischfußball und Fangen, im Kursraum hämmert das gleichmäßige „Rottottottottott“ elektrischer Nähmaschinen.

Die Nähwerkstatt gibt es im „elele“ seit Mitte der 80er Jahre, als der Reuterkiez noch kein Treffpunkt für Künstlervolk war, sondern eine vernachlässigte Wohngegend am Rande Westberlins. Hierhin zogen Migrantinnen, vor allem aus der Türkei. Viele von ihnen hatten nicht die Gelegenheit – oder sahen nicht die Notwendigkeit –, Deutsch zu lernen.

Für diese Zielgruppe eröffnete das Nachbarschaftsheim „elele“, dessen Name im Türkischen „Hand in Hand“ heißt, die Nähwerkstatt. „Wir hatten den Eindruck, dass viele Frauen einfach nur zuh Huse sitzen“, erzählt Christine Skowronska, Leiterin des „elele“. „Wir wollten ihnen einen guten Grund geben, das Haus zu verlassen und unter Leute zu kommen. Das Nähen ist dafür ein praktischer Vorwand. Wer näht, spart Geld.“

Die Hemmungen verlieren

Den Näh-Sprach-Integrationskurs leitet seit neun Jahren Denise Puri. Die Künstlerin aus der Nachbarschaft ist keine professionelle Deutschlehrerin, aber sie kennt sich aus mit Stoffen und Nähten – und mit Alltagsrassismus. „Meine Teilnehmerinnen leben in einer Gesellschaft, die ihnen mit Misstrauen und Angst begegnet“, sagt sie. „Weil ich selbst nicht weiß bin, kenne ich das Gefühl, irgendwie nicht hierherzugehören. Deshalb fühlen sich die Frauen bei mir gut aufgehoben.“

Denise Puris hilft gerade Leyla Beren dabei, mit Kreide das Schnittmuster für einen Rock auf ein Stück Stoff zu übertragen. Denise Puri erklärt grundsätzlich nur auf Deutsch und achtet darauf, dass auch die Teilnehmerinnen untereinander Deutsch sprechen. Da gibt es keine Ausnahmen. Die Idee dabei: Statt an Grammatikübungen und gestanzten Texten zu verzweifeln, sollen die Kursteilnehmerinnen über etwas Alltägliches wie Handarbeit sprechen. Das ist auch mit geringem Wortschatz möglich. Vor allem aber geht es nicht darum, ein Deutschzertifikat zu erwerben, sondern die Hemmungen zu verlieren.

Für Beren, den Deutschmuffel, hat das funktioniert. Bevor sie in die Nähwerkstatt gekommen ist, lebte sie schon über zehn Jahre in Deutschland, ohne beim Sprechen irgendwelche Fortschritte zu machen. „Hier im Kurs ist mein Deutsch plötzlich besser geworden“, sagt sie. „Ich traue mich jetzt mehr.“ Seit zwei Jahren kommt Leyla Beren zur Nähwerkstatt. Den Tipp bekam sie von ihrem Therapeuten.

Leyla Beren ist 2002 aus der Türkei geflüchtet, weil sie dort wegen politischem Aktivismus ins Gefängnis gemusst hätte. Ihre Erfahrungen mit staatlicher Repression und Flucht belasten Beren bis heute. „Ich werde die Gedanken nicht los. Manchmal reichen Kleinigkeiten, ein Wort oder eine Bewegung, und die Erinnerungen kommen zurück. Und auch die Angst“, beschreibt Beren. Sie hat deshalb verschiedene Psychologen aufgesucht, bis sie einen fand, bei dem sie sich verstanden fühlte. Und der schickte sie ausgerechnet zum Nähen. Für Leyla Beren ein Glücksgriff: „Beim Nähen vergesse ich meine Erinnerungen. Und ich kann mich ausdrücken.

Fremd, egal wie man spricht

„Wir hatten den Eindruck, dass viele Frauen einfach nur zu Hause sitzen. Wir wollten ihnen einen guten Grund geben, das Haus zu verlassen und unter Leute zu kommen. Das Nähen ist dafür ein praktischer ­Vorwand. Wer näht, spart Geld“

Christine Skowronska, Leiterin des NachbarschaftshausES „elele“

Sich ausdrücken, das konnte Leyla Beren hingegen im Deutschen nicht. Vor dem Nähkurs war sie frustriert von der Landessprache ihrer neuen Heimat – und den Menschen, die sie sprechen. „Ich hatte das Gefühl, ich kann mich anstrengen und lernen, so viel ich will“, sagt sie, „ich bleibe immer die, die nicht richtig Deutsch kann.“

So etwas wie Willkommenskultur hat Leyla Beren nicht erlebt. „Die Deutschen sind freundlich, aber verschlossen. Wir bleiben Fremde für sie, egal wie wir sprechen.“

Denise Puri hat Verständnis dafür, dass viele ihrer Teilnehmerinnen wenig motiviert sind, sich zu integrieren. „Integration ist für mich kein sinnvoller Begriff“, sagt sie, „jedenfalls nicht, wenn man damit Sprache oder Religion verbindet. Es geht doch vielmehr darum, dort wo man lebt eine Heimat zu finden.“

Die Angst nehmen

Viele der Frauen, die zu ihr zum Nähen kommen, finden diese Heimat nicht in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, sondern nur unter sich. Was „die Deutschen“ machen, ist ihnen auch nach Jahrzehnten noch fremd. Auch das ist ein Anspruch der Neuköllner Nähwerkstatt: Die Frauen sollen die Angst vor der deutschen Kultur verlieren, vor dem Einfluss, den sie auf sie und ihre Kinder hat.

Die 43-jährige Nejmye zum Beispiel fragt ihre Nähkursleiterin um Rat, wenn sie sich Sorgen um ihre Tochter macht. Nejmye lebt seit 25 Jahren in Deutschland, ihre Tochter Aylin ist hier aufgewachsen, studiert inzwischen in einer anderen Stadt.

Nejmye und Aylin arbeiten heute an einer Röhrenjeans, die gekürzt und gesäumt werden muss. Nejmye will ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen – jedenfalls nicht schon wieder. Vor zwei Jahren wurden sie und ihre Familie per Zwangsräumung aus ihrer Kreuzberger Wohnung geworfen. Damals, findet sie, hat sie schon mehr als genug Aufmerksamkeit bekommen.

Die 43-jährige Nejmye näht nicht nur im „elele“, sondern sucht und findet dort auch Rat

Dass Nejmye sich heute ins Zeug legt, ist eine Ausnahme, normalerweise ist die Näherei für sie nur ein Vorwand, herzukommen. „Das ist für mich, was für meinen Mann die Kneipe ist“, sagt sie. Nejmye schätzt die Nähwerkstatt wegen der sozialen Kontakte – und weil sie in Denise Puri eine Expertin für das Deutschland der Deutschen gefunden hat. „Manche sind verunsichert, weil ihre Kinder quasi in einer anderen Kultur aufwachsen“, sagt Denise Puri. „In solchen Fällen bin ich so etwas wie der Prototyp, an dem sie überprüfen können: Okay, aus der ist in diesem Land auch etwas geworden.“

Gerade im Reuterkiez leben zwei Gruppen der deutschen Gesellschaft scheinbar aneinander vorbei. Die Nachbarschaft im Einzugsgebiet der Rütli-Schule stand noch vor wenigen Jahren für migrantische Milieus, die keinen Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft finden – so weit die entschärfte Variante des Vorurteils. Für manche stand der Reuterkiez schlicht für gefährliche Parallelgesellschaften.

Heute ist die Umgebung durchgentrifiziert und junge qualifizierte Deutsche und Expats (Auswanderer – Anm. d. Red.) schlürfen Cappuccinos auf der Weserstraße. Im „elele“ sollen die einen und die andern sich begegnen können. Integration wird hier als beidseitige Anstrengung verstanden.

Aber die Begegnung auf Augenhöhe bleibt Utopie: Nach wie vor kommen überwiegend türkische MigrantInnen ins Nachbarschaftshaus. Denise Puri versucht, ihren Nähkurs gemischt zu halten, lädt ab und zu deutsche Freundinnen ein. „Auch die lernen etwas, sie werden für die Bedeutung von Alltagsrassismus sensibilisiert.“ Auch wenn das Prinzip „elele“ – Hand in Hand, Herkunftsdeutsche und Migrantinnen – utopisch ist: Zumindest beim Nähen sind alle gleich.

Leyla Beren widmet sich jetzt ganz ihrem Rockstoff, steckt die Einzelteile mit Stecknadeln zusammen. Ihr gegenüber sitzt eine Frau mit dunkelblauem Kleid und dunkelblauem Kopftuch und schiebt dunkelblauen Stoff durch die Nähmaschine. Eine andere steht vor dem Spiegel und wickelt sich einen meterlangen Regenbogenschal um den Hals. Wenn hier in der Neuköllner Nähwerkstatt Integration stattfindet, dann ganz nebenbei. Wo man herkommt, wie gut man Deutsch spricht, ob oder zu wem man betet – alles einerlei, solange es darum geht, saubere Nähte zu fabrizieren.

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