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Eine Katastrophe verändert die Welt

Am 26. April 1986 explodierte das sowjetische Kernkraftwerk Tschernobyl. Seitdem steht „Atom“ weltweit für „Gefahr“. Von den Folgen des Super-GAUs hat sich die Region bis heute nicht erholt

von Bernhard Pötter

1. Der Unfall

Es ist ausgerechnet ein Sicherheitstest, der zur Katastrophe führt: Am späten Abend des 25. April wollen die Techniker an Reaktor 4 des AKW Tschernobyl in der heutigen Ukraine testen, ob die Kühlpumpen für den Reaktor auch ohne externe Stromversorgung arbeiten. Damit soll der Notfall simuliert werden. Die Bedienungsmannschaft senkt um 23 Uhr Steuerstäbe in den Reaktor, um die Kettenreaktion herunterzufahren. Gleichzeitig legen sie die Not-Abschaltung lahm. Als die Leistung des Atomreaktors aber fast zum Erliegen kommt, fürchten die Techniker, der Reaktor könne instabil werden. Sie ziehen die Steuerstäbe wieder heraus. Um 1.23 Uhr hat der Meiler nur noch 12 Prozent Leistung, der Test beginnt. Doch plötzlich nimmt die Leistung sprunghaft zu. Offenbar sind nur 6 Steuerstäbe im Reaktor. Die Sicherheitsbestimmungen verlangen mindestens 30. Das Kühlwasser verdampft, als die Reaktorleistung auf das Hundertfache des Normalenspringt. Brennelemente schmelzen. Um 1.24 Uhr zerreißen zwei Explosionen in den Brennelementenden Deckel des Reaktors (Abbildung I) und schleudern einen Teil des Kerns in die Umgebung. Luft dringt in das Innere und entzündet die Grafitstäbe in der Reaktorkammer (Abbildung II).

2. Kampf gegen das Inferno

Im Reaktor befinden sich beim Unfall etwa 190 Tonnen hochradioaktives Material. Das Feuer brennt etwa zehn Tage und trägt wie in einem Kamin radioaktive Partikel hoch in die Luft. Explosion und Feuer setzen etwa 200-mal so viel Radioaktivitätfrei wie die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki zusammen. Das brennende Grafit wird erst erstickt, als 5.000 Tonnen Bor, Blei, Sand und Lehm in den Reaktor gekippt werden – aus Helikoptern und von „Liquidatoren“: Bauarbeitern und Soldaten, die mit völlig unzureichender Ausbildung, Ausrüstung und Schutzanzügenteilweise mit bloßen Händen aufräumen. Allein 1986/87 arbeiten schätzungsweise 240.000 dieser Nothelfer aus der ganzen Sowjet-union an der Unfallstelle, tragen strahlende Erde ab, schlachten verstrahlte Tiere oder ebnen verseuchte Dörfer ein. In Prypjat, 3 Kilometer vom Reaktor, steigen die Strahlenwerte auf das 250-Fache der Normaldosis. 31 Liquidatoren sterben kurz nach dem Unfall, meist an akuter Strahlenkrankheit.

3. Abwiegeln statt Warnen

Die ersten Warnungen kommen aus einem anderen AKW: dem schwedischen Forsmark, 1.100 km entfernt von Tschernobyl, wo Arbeiter am 28. April bei Kontrollen radioaktive Partikel an ihrer Kleidung entdecken. Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS bestätigt den Unfallerst am Abend mit einer dürren Meldung (siehe Faksimile). Die 50.000 Einwohner von Prypjat klagen nach dem Unfall über Kopfschmerzen, Übelkeit und metallischen Geschmack im Mund. Die Stadt wird erst 36 Stunden nach dem Unglückgeräumt. Am 1. Mai finden überall an der freien Luft Demonstrationen zum Tag der Arbeit statt. Die Behörden kontrollieren Milch und Trinkwasser in der verstrahlten Region erst später und verteilen an die Bevölkerung Jodtabletten zum Schutz der Schilddrüse erst vier Wochen nach dem SuperGAU. Schließlich werden die Menschen aus einer Zone von 30 Kilometern rund um den Reaktor evakuiert. 350.000 Menschen verlieren ihre Heimat. Etwa 5 Millionen leben heute noch in teilweise verstrahlten Regionen. 7 Prozent der Ukraine und 30 Prozent von Weißrusslands sind kontaminiert.

4. Strahlendes Deutschland

36 Stunden nach der Kernschmelze werden auch in Deutschland, der Schweiz, Schweden und der damaligen Tschechoslowakei erhöhte Strahlenwerte gemessen. Während in der Bundesrepublik die Medien bald ausführlich über das Thema berichten, wird es in den DDR-Zeitungen nur als kleine Meldung versteckt. Die Wolke über Deutschland belastete kurzfristig Milch und Blattspinatmit radioaktivem Jod, die Messungen werden aber nur im Westen öffentlich. Die Belastung durch den radioaktiven Fall-out ist so unterschiedlich, dass sie große Unruhe auslöst und auch die empfohlenen Grenzwerte etwa bei Milch zwischen 500 und 20 Becquerel (bq) pro Liter schwankten. Heute liegt der Mittelwert bei der Jod-Belastung bei 0,1 bq. Weit größere Mengen an strahlendem Cäsiumreichern sich im Boden an. Nach 30 Jahren sind bis heute davon etwa 44 Prozent der Radioaktivitätzerfallen. Besonders betroffen waren und sind allerdings Waldböden im Bayerischen Wald und südlich der Donau. Auch weiterhin sind Pilze und Wildschweinfleisch aus diesen Gebieten belastet. Während die Behörden sehr zurückhaltend bei den medizinischen Folgen sind, verweisen die atomkritischen „Ärzte zur Verhinderung des Atomkriegs“ (IPPNW) auch auf deutsche Opfer: Die Statistiken zeigten mehr Totgeburten, Fehlbildungen bei Kindern und ein verändertes Verhältnis von Jungen und Mädchen bei Neugeborenen seit der Atomkatastrophe.

5. Krank und arm durch Tschernobyl

Unter den Wolken

Weil der Wind sich immer wieder dreht, ziehen nach dem Super-GAU mehrere Wolken von radioaktivem Cäsium und Jod aus Tschernobyl über Europa: die erste nach Norden über Polen und Skandinavien, die zweite nach Westen über die damalige Tschechoslowakei und Österreich bis Deutschland, die dritte nach Süden Richtung Rumänien, Bulgarien und Griechenland bis zur Türkei. Die Grafik zeigt die maximale Ausdehnung mit abgestuften Strahlenbelastungen: Je dunkler, desto höher die Strahlung. Etwa ein Drittel der gesamten Radioaktivität regnete über Weißrussland, Russland und der Ukraine ab, vor allem nördlich des Kraftwerks. Etwa 53 Prozent der Strahlung gingen über Skandinavien, Ost- und Mitteleuropa und dem Balkan nieder. 11 Prozent verteilten sich über die gesamte Nordhalbkugel. In Deutschland traf es vor allem Bayern und Baden-Württemberg.

Schon 3 bis 4 Jahre nach dem Unfall steigen die Fälle von Schilddrüsenkrebsbei Kindern besonders in Weißrussland an. Auch andere Krebserkrankungen nehmen dort zu, ebenso verschlechtert sich der allgemeine Gesundheitszustand. Das Erbgut der Strahlenopfer wird teilweise geschädigt. Von den insgesamt 600.000–830.000 „Liquidatoren“, die über die Jahre in der Region eingesetzt werden, sind nach Schätzungen bis 2005 bereits bis zu 125.000gestorben. Eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung der Folgen durch die sowjetischen Behörden gibt es nicht. Um die Zahl der toten, behinderten oder erkrankten „Tschernobyl-Opfer“ tobt seit Jahrzehnten eine Kontroverse zwischen offiziellen Stellen wie der WHO und der IAEO und unabhängigen Medizinern wie den IPPNW. Während die IAEO nur etwa 4.000 Tote als Folge von Tschernobyl annimmt, rechnen die IPPNW mit „einigen Zehntausend bis 850.000“. Eine aktuelle Studie von Greenpeace ergab auch nach 30 Jahren teilweise hohe Strahlenwerte für Milch (100 bq), getrocknete Beeren und Pilze (bis 2.500 bq), Getreide, Heu und Holz.

Seit der Unabhängigkeit hat Weißrussland etwa 19 Milliarden Dollar für die Folgen von Tschernobyl gezahlt, die Ukraine etwa 10 Milliarden. Weißrussland musste zeitweilig über 20 Prozent seines Staatshaushalts für die Bekämpfung der Krise aufbringen. Die Ukraine wendet noch heute zwischen 7 und 13 Prozent ihrer Wirtschaftsleistungauf, um die Folgen von Tschernobyl zu lindern.

Weitere Folgen

In der BRD richtet die CDU/CSU-FDP-Regierung fünf Wochen nach dem Unfall das Bundesumweltministeriumein. Die SPD beschließt im August den Atomausstieg innerhalb von 10 Jahren. Weltweiter jahrelanger Stopp bei Neubauten von Atomkraftwerken. Österreich nimmt sein fertiges AKW nicht in Betrieb. Italien steigt nach einem Referendum aus der Atomkraft aus.

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