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Macht In der Atompolitik fiel sie um. In der NSA-Affäre tat sie nichts. Aber in der Flüchtlingspolitik riskiert Angela Merkel alles. Warum die Bundeskanzlerin sich weigert, der Angst der Bevölkerung nachzugebenPasst sie noch zu den Deutschen?

Aus Berlin und Philippsburg Ulrich Schulte und Daniel Schulz

Da stimmt etwas nicht. Das ist nicht die alte Merkel. Diesen Gedanken wird man ja seit Monaten nicht mehr los. Lange puzzelte sie im Kanzleramt pragmatisch vor sich hin, sie garantierte den Deutschen Ruhe und Wohlstand.

Aber jetzt sitzt Angela Merkel zum Beispiel bei „Anne Will“, 6 Millionen Deutsche schauen zu, und sie wehrt freundlich, aber bestimmt alle Versuche der Moderatorin ab, ihr Zugeständnisse abzuringen.

Obergrenze für Flüchtlinge? Nicht mit ihr. Ihre Lösung? Komplex, europäisch, hängt von vielen Faktoren ab. Nicht genau das, was verunsicherte Wähler hören wollen.

Als die Regie das Video aus Clausnitz zeigt, brüllende Männer in der Nacht vor einem Bus, darin weinende Flüchtlingskinder, fragt Anne Will: „Ist das noch Ihr Volk?“ Gute Frage. Aber weil nicht nur pöbelnde Sachsen die Politik der Kanzlerin falsch finden, wird sie noch besser, wenn man sie anders stellt: Ist Merkel noch die Kanzlerin der Deutschen?

Anfang Februar glaubten dem „ARD-Deutschlandtrend“ zufolge 81 Prozent der Deutschen, dass Merkels Regierung die Flüchtlingssituation nicht im Griff habe. Die CSU rebelliert seit Monaten gegen Merkels Flüchtlingspolitik. Auch ihre eigene Partei, die CDU, ist zerrissen. Bürgermeister schrei­ben Briefe an das Kanzleramt, ängstliche Abgeordnete motzen in Fraktionssitzungen. Rentner, die stets konservativ wählten, schreien CDU-Wahlkämpfer in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz an. Schämen solle sich Merkel, durch sie gehe Deutschland vor die Hunde.

Merkel riskiert viel, wenn nicht alles. Ihr Amt. Ihre Macht. Aber auch den Zusammenhalt in Deutschland. Und in Europa. Der rechte Rand wird stärker, die Skepsis reicht bis weit in die Mitte. Am Sonntagabend, wenn die Wahllokale schließen, wird der Deutungskampf in der CDU erneut ausbrechen. Ist Merkel schuld daran, wenn die CDU in Baden-Württemberg auf ein historisches Tief absackt? Ist ihre Flüchtlingspolitik der Grund, warum Julia Klöckner Rheinland-Pfalz vielleicht doch nicht holt?

Fukushima

11. März 2011: Erdbeben. Tsunamiwellen zerstören die Kühlung des AKW Fukushima. Japanische Regierung ruft „nuklearen Notstand“ aus.

12. März: Nachweis von radioaktivem Caesium außerhalb von Reaktor I.

13. März: Die deutsche Bundesregierung setzt die im Oktober beschlossene Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke aus.

9. Juni: Angela Merkel erklärt, die Risiken der Kern­energie seien, das habe Fukushima gezeigt, nicht beherrschbar.

30. Juni: Der Bundestag beschließt den Atomausstieg bis 2022.

Seit Wochen sammeln Merkels Gegner in der Union Munition, um die Wahlergebnisse gegebenenfalls als Misstrauensvotum zu interpretieren. Es sind Schicksalstage einer Kanzlerin. Was reitet Merkel? Warum geht die sonst so Vorsichtige derart ins Risiko? Was unterscheidet das, was sie gerade tut, von ihrem Handeln in anderen Krisen ihrer Kanzlerschaft?

Drei Ereignisse, denen sich Merkel stellen musste, stechen in ihrer Regierungszeit besonders heraus. Wegen ihrer politischen Wucht. Weil sie alte und mächtige deutsche Ängste aktivieren. Weil sie kurz vor wichtigen Wahlen passieren: der GAU in Fukushima 2011, in Baden-Württemberg droht der CDU der Machtverlust, Merkel legt eine schnelle 180-Grad-Wende in der Energiepolitik hin und besiegelt den deutschen Atomausstieg. 2013, drei Monate vor der Bundestagswahl, der Whis­tle­blower Edward Snowden enthüllt Abhörprogramme der NSA, auch Merkels Handy wird überwacht. Sie tut: nichts. Die Silvesternacht in Köln, nach der sich die Stimmung in Deutschland deutlich wandelt. Merkel bleibt bei ihrer Flüchtlingspolitik. Kurz vor drei Landtagswahlen.

Hat sich die Kanzlerin verändert? Ist ihr plötzlich egal, ob ihre Politik gut ankommt?

Jürgen Trittin, 61, einer der erfahrensten Grünen und lange Jahre in der Opposition der wichtigste Gegenspieler Angela Merkels, klingt leiser als sonst und etwas heiser. Eine böse Grippe, blöd, so kurz vor Wahlkampfauftritten in Waldkirch und Tübingen. Trittin hat seine 1,97 Meter auf eine Bank im Café Tiriki befördert, er wohnt um die Ecke im Berliner Stadtteil Pankow.

Gibt es ein Prinzip, das Merkels Kanzlerschaft zusammenhält, Herr Trittin?

Er schmiert sich ein Brötchen mit Basilikum-Tomaten-Aufstrich. Dann sagt er: „Ich sehe bei Merkel, dass sie die Realität immer zu 100 Prozent an­erkennt.“ Das sei bei Fukushima so gewesen, und nun, in der Flüchtlingskrise, sei es genauso. „Sie stellt sich hin und sagt, der Kaiser ist nackt.“ Die Atomkraft sei eben nicht zu halten gewesen, und das Dublin-Abkommen, das Deutschland die Flüchtlinge vom Leib hielt, sei tot.

„Angela Merkel hat nach Fukushima versucht, Basta-Politik zu machen“

Stefan Martus, Bürgermeister von Philippsburg

Die Kanzlerin mache auch in der Flüchtlingspolitik das, was sie als richtig erkannt habe, sagt er. Es sei eben nur die europäische Lösung sinnvoll. Die Europäische Union müsse ihre Außengrenzen sichern, aber auch Brücken darüber bauen. „Abschotten funktioniert nicht, alle hereinzulassen, funk­tio­niert auch nicht.“ In der Sache, sagt Trittin, habe Merkel recht.

Wenn ein Grüner der unreflektierten Merkel-Verehrung unverdächtig ist, dann er. Trittin war der Wortführer des linken Parteiflügels, er bestand stets auf harter Kritik an der CDU und schrieb nach der verlorenen Bundestagswahl 2013 ein Buch über den „Stillstand made in Germany“ – den er auch als Merkels Stillstand definierte.

Jetzt dagegen: Trittin gibt, wie andere Linke, Merkel recht. So weit ist es gekommen. Merkels Flüchtlingspolitik bringt das Ko­ordinatensystem zahlreicher Politiker durcheinander. So sehr, dass sich die Frage stellt, ob sie eigentlich selbst eins hat.

Man muss ein wenig zurückgehen, um der Antwort näherzukommen. Und erst einmal klären, wodurch sich die Kanzlerin zuvor ausgezeichnet hat – jene Kanzlerin, die die Deutschen eigentlich zu kennen glaubten.

Man kann dafür nach Philippsburg fahren, in eine 13.000-Einwohner-Stadt in Baden-Württemberg. Dort steht ein Atomkraftwerk.

Das Rathaus ist ein kubischer moderner Bau mit viel Glas. Aus der breiten Fensterfront in seinem Büro sieht Bürgermeister Stefan Martus, 47, fast nur die Wand der Kirche nebenan. Er hat die Politik der neuen Angela Merkel erlebt, als im August plötzlich 400 Flüchtlinge in seiner Stadt ankamen. Er kennt aber auch die alte Merkel, wegen der einer der zwei Atomreaktoren in Philippsburg vor fünf Jahren heruntergefahren wurde.

Kurz zuvor, am 11. März 2011, treffen erst ein Erdbeben und dann bis zu 15 Meter hohe Wellen das japanische Atomkraftwerk Fukushima, Notsysteme fallen aus und Kerne schmelzen. Nach drei Tagen verkündet Angela Merkel, alle deutschen Atomkraftwerke müssten überprüft, die alten abgeschaltet werden. Es ist der Beginn des Atomausstiegs. Sie hat die Laufzeiten der Kraftwerke gerade erst verlängert, aber das zählt nicht mehr.

„Ich sehe bei Merkel, dass sie die Realität immer zu 100 Prozent anerkennt“

Jürgen Trittin, Außenpolitiker der Grünen

Am Tag nach dem Tsunami fährt Stefan Martus am Baggersee Fahrrad, seine Frau ist mit dabei, die zweijährige Tochter Anna sitzt hinten bei ihm im Anhänger, als der Leiter des Atomkraftwerks anruft. Martus hat ihn um seine Einschätzung gebeten. Er weiß, dass das, was in Japan passiert, Folgen für seine Stadt haben kann. Vielleicht, sagt der Mann vom Kraftwerk, lasse sich ein GAU in Japan noch verhindern. Vielleicht.

Die Bilder von Fukushima brennen sich ins kollektive Gedächtnis der Deutschen ein: Der weißgraue Reaktorblock, ein Feuerball, eine dunkle Rauchsäule steigt nach oben. Der diesige Himmel über dem Kraftwerk scheint zu flimmern wegen der tödlichen Strahlung, aber das ist Einbildung oder schlechte Bildqualität.

Die Deutschen standen der Atomenergie immer skeptisch gegenüber, Fukushima ist die Bestätigung dieser Ängste. Wenn man die Kernkraftwerke behalten wollte, könnte das die Gesellschaft zerreißen. Merkel will nicht.

Das Ausmaß der Katastrophe ist noch nicht abzusehen, da tritt sie mit Außenminister Guido Westerwelle vor die Presse. Wenn ein Land wie Japan mit seinen hohen Standards nukleare Folgen eines Erdbebens nicht verhindern könne, dann könne auch Deutschland „nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“. Merkel telefoniert mit den Ministerpräsidenten, in deren Ländern Atomkraftwerke stehen.

Vier Tage nach dem Unglück verkündet Merkel in Berlin das Atom-Moratorium; alle deutschen Atomkraftwerke werden geprüft, die vor 1980 in Betrieb genommenen müssen sofort vom Netz. Auch Philippsburg I.

Die Kanzlerin reagiert also so, wie es ins damals vorherrschende Merkel-Bild passt. Sie richtet ihre Politik nach der Stimmung. Viele sagen: Sie hängt ihr Fähnchen nach dem Wind. Japan gleich Industrieland gleich Deutschland; passieren kann auch hier etwas, das ist die Logik ihrer Entscheidung. Die Angst der atomskeptischen Deutschen ist ihr Antrieb.

„Deutschland kommt mir vor wie ein ‚great big Sweden‘ “

Alison Smale, „New York Times“

Merkel kann jedes Ereignis schnell auf die Gefühlslage der Bevölkerung projizieren – und, wenn zum Machterhalt nötig, auf ihre Politik. Manche schrie­ben hinterher, sie sei eine Umfallerin, der jede Politik gleich gut sei, solange nur ihre Umfragewerte stabil blieben. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie im Moment der Atomkatastrophe auch an die Umfragen dachte, kurz vor Landtagswahlen in Baden-Württemberg, bei denen die Grünen der CDU die Macht nach 58 Jahren abjagten.

Vielleicht ist es aber interessanter, Merkel nicht nur zu unterstellen, dass sie ihr Fähnchen immer nach dem Wind hält. Sondern anzunehmen, dass sie, wie Jürgen Trittin behauptet, oft genau das tut, was sie für richtig hält. Tatsächlich sieht der Atomausstieg der Kanzlerin ganz anders aus, wenn man ihn unter dieser Prämisse liest.

Stefan Martus, der Philippsburger Bürgermeister, sagt, an Politikern schätze er die Freude an Entscheidungen und die Gelassenheit, die anschließende Empörung auszuhalten. Er mag Helmut Schmidt und Gerhard Schröder. Dem, sagt er, „war es egal, ob ihn die Agenda 2010 sein Amt kostet, weil der die Notwendigkeit gesehen hat.“ In dieser Reihe sieht er auch Merkel.

Wer „basta“ sagt, ist kein Umfaller

In diesem Fall allerdings fand er ihre Beschlüsse nicht zu Ende gedacht. Er sieht zu viele Kompromisse mit den Grünen. 2016 trat Martus aus der CDU aus. Wegen lokaler Streitigkeiten, aber auch wegen Merkels Energiepolitik. Denn zu ihrer Energiewende gehört auch, dass in Frankreich aufbereiteter Atommüll nicht mehr ins Zwischenlager nach Gorleben kommt – sondern bei den Kraftwerken gelagert wird. Also in Philippsburg.

Merkel sieht sich als Chefin der Deutschland AG. Ihr Job: dass der Laden läuft

Für die Energiewende will ein Netzbetreiber nun einen Stromkonverter für Windkraft in der Stadt bauen; im Ort protestieren sie dagegen. Wegen des Lärms. Weil der riesige Bau die Landschaft verschandelt, weil sie sich übergangen sehen. Martus sagt: „Da wurde versucht, Basta-Politik zu machen.“

Der Mann, der Gerhard Schröder schätzt, wirft Merkel Basta-Politik vor. Wer „basta“ sagt, ist kein Umfaller. Wer „basta“ sagt, setzt sich durch. Wie in Trittins Interpretation ist Angela Merkel auch in dieser Version der Geschichte eine Frau, die stets Überzeugungen vertritt.

Welche Überzeugungen sind das eigentlich, Herr Trittin?

Jürgen Trittin ist im Pankower Café mittlerweile beim zweiten Cappuccino angekommen und sagt: „Fukushima war für sie die Gelegenheit, in den bundesdeutschen Konsens zurückzukehren.“ Das ist es, was ihre Politik zusammenhält, glaubt er. Trittin wird jetzt grundsätzlich. „Merkel hatte immer politische Überzeugungen. Sie entscheidet nach einem einfachen Prinzip: Alles, was der Deutschland AG nutzt, ist gut.“

Wichtig ist ihr also, so könnte man das Bild übersetzen, dass die Maschine läuft und läuft und läuft. Die Deutschland AG, das sind dabei nicht nur die großen Unternehmen, obwohl die ihr oft wichtiger sind als die anderen Rädchen im deutschen Apparat. Aber letztendlich zählt nur, dass das große Ganze funktioniert. Dass es sich fortbewegt, irgendwohin, auch wenn hier und da mal ein paar Teile abfallen wie jetzt gerade.

Das versteht Merkel als ihren Job. Nicht die Befriedigung bestimmter Wählermilieus und Zielgruppen, nicht die Durchsetzung von Details. Nein, Merkel zielt auf alle, weil alle dafür notwendig sind, dass es funk­tio­niert. Das ist ihre Auffassung von Konsens.

Das heißt nicht, dass sie keinen Kompass hat, keine Überzeugungen. Merkel unternahm ja einmal den Versuch, Deutschland umzukrempeln, da konnte man sehen, wie sie sich dieses Land vorstellt. Auf dem Leipziger Parteitag 2003 beschloss die CDU unter ihrer Vorsitzenden neoliberale Reformen, die sich gewaschen hatten. Ein neues Steuermodell war geplant und eine Kopfpauschale in der Gesundheitspolitik. Beides wurde von marktgläubigen ­Ökonomen bejubelt, beides hätte Gutverdiener noch besser gestellt.

Doch die Reformpolitik zugunsten ausgewählter Zielgruppen kam schlecht an. Merkel hätte die Wahl 2005 deswegen beinahe verloren und konnte sich nur knapp gegen Gerhard Schröder durchsetzen, der sie in der legendären „Elefantenrunde“ in der ARD abkanzelte wie ein kleines Mädchen.

Die Verwaltungschefin der Deutschland AG befürwortet seitdem auch mal einen Mindestlohn, obwohl sie persönlich ihn für überflüssig hält – weil ihn die Deutschen und der CDU-Arbeitnehmerflügel gut finden. Oder sie schaltet die deutschen Atomkraftwerke ab, weil in Japan ein Meiler explodiert – obwohl sie kurz vorher mit der FDP eine Laufzeitverlängerung verabredet hat. Merkel hat Überzeugungen, aber keine ist so groß wie die Gewissheit, dass sie die Maschine am Laufen halten muss. Diese ­Laufzeitverlängerung war in Trittins Augen ein „freundlicher Deal mit der Industrie. Ein paar Jahre mehr – mehr nicht.“ Merkel, die Physikerin, sei nie eine fanatische Anhängerin der Atomkraft gewesen.

Tatsächlich lässt sich Merkels Hin und Her in der Atompolitik ziemlich gut mit Trittins Deutschland-AG-Modell erklären. Wahrscheinlich ist, dass sie eigentlich keine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke in Deutschland wollte. Sie war da schlicht leidenschaftslos.

Merkel hat 2003 versucht, das Land umzukrempeln. Die Reformpolitik kam gar nicht gut an

Den Ausstieg nach Fukushi­ma wollte sie dann allerdings unbedingt, weil sie wusste, dass die Atomkraft in Deutschland nach dem GAU keine Zukunft mehr hatte. Nach Fukushima sah Merkel die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft. Und nun waren ihr die Ängste in der Bevölkerung wichtiger. Also nutzte sie die Chance und änderte ihre Politik, weil die Umstände sich geändert hatten.

Trittin brachte seine Grünen auf einem Parteitag und später im Bundestag dazu, dem schwarz-gelben Atomausstieg zuzustimmen. Merkels Ausstieg war einmal seiner gewesen, er, der ehemalige Umweltminister, woll­te nicht zulassen, dass Merkel ihm seinen Erfolg klaute.

In Trittins Logik ist Merkel also eine Systemtheoretikerin der Macht. Eine, die stets das Ganze sieht und jede Einzelentscheidung variabel anpasst. Es ist, als hätte sie mehrere Zahnrädchen vor sich. Auf einem steht „Atomkraft ja“ und auf einem steht „Atomkraft nein“, und sie ist bereit, jedes von beiden zu drehen – aber erst nachdem sie analysiert hat, was das für die ganze Maschine bedeutet.

Andere poltern los und schauen dann, was passiert. Merkel betrachtet die Dinge vom Ende her und passt dann ihre Taktik an. Manchmal, wie im Fall des Atomausstiegs, setzt sie sich dann schnell durch, weil die Dinge eindeutig sind. Manchmal – genauer: ziemlich oft – greift sie aber zu ­einer anderen, ihrer Lieblingsstrategie. Die ließ sich in der Geheimdienstaffäre beobachten, die die Enthüllungen des ­Whistle­blowers Edward Snowden anstießen. Diese Strategie heißt: Erst abwarten und dann nichts tun.

Alison Smale, 61, graublonde Haare, Blazer, Halstuch mit Blumen, schaut in ihrem Büro in Berlin-Mitte über einen niedrigen Tisch, auf dem Notizblöcke, Bücher und Papierstapel Kante an Kante liegen. „Die NSA-Affäre hat die Deutschen nicht wirklich aufgeregt. Normalbürger, die Face­book und Google nutzen, machen sich wenige Gedanken über das, was Geheimdienste untereinander tun.“

Atomkraft ja? Atomkraft nein? Angela Merkel ist im Grunde bereit, jedes Zahnrädchen zu drehen

Smale schreibt seit Jahrzehnten über Politik in Europa, sie hat in Moskau gearbeitet, in Afghanistan und im Irak. 1989 stand Smale an der ungarisch-österreichischen Grenze und sah die fröhlichen Menschen aus der DDR ankommen. Im September 2015 stand sie wieder dort und sah, wie Hunderte Flüchtlinge, klatschnass vom Regen, über die Autobahn liefen. Sie hat als erste Frau die International Herald Tribune geleitet. Heute führt sie das Berliner Büro der New York Times. Wir reden mit ihr über Merkel und die Snowden-Affäre.

Die Affäre erwischt die Kanzlerin im Sommer 2013, im beginnenden Bundestagswahlkampf. Im Juni veröffentlichen die Washington Post und der britische Guardian erste Berichte, der US-Geheimdienst NSA hatte mit dem Programm Prism Datenverbindungen überwacht. Edward Snow­den, der als Mitarbeiter einer Beratungsfirma für die NSA tätig war, flieht aus den USA und stellt intern abgerufene Daten Medien zur Verfügung. Bald darauf wird öffentlich, dass der amerikanische und britische Geheimdienst auch in Deutschland Kabel angezapft hatten, durch die Telefon- und E-Mail-Verbindungsdaten flossen.

Frage an Alison Smale: „Hat die Kanzlerin, die doch selbst in der DDR in einem Spitzelsystem aufgewachsen ist, angemessen gehandelt – angesichts des besonderen Verhältnisses der Deutschen zur Überwachung?“ Smale antwortet mit einer Gegenfrage: „Haben alle ­Deutschen ein besonderes Verhältnis zu Überwachung – oder nur deutsche Intellektuelle und Politiker?“

Es ist eine Frage, wie sie auch Merkel stellen könnte: Wenn sich viele Linksliberale darüber aufregen, dass Geheimdienstleute spitzeln, ist das dann ein Anlass zu handeln? Oder ist es besser für die Deutschland AG, die Füße stillzuhalten?

Kanzleramtschef Ronald Pofalla sagt Mitte August im Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestags zur NSA-Affäre aus. Anschließend stellt er sich vor die Mikrofone der wartenden Reporter. Der Vorwurf der vermeintlichen Totalausspähung in Deutschland sei vom Tisch, sagt er. „Die US-Seite hat uns den Abschluss eines No-Spy-Abkommens angeboten.“ Merkel sagt noch Mitte September, also kurz vor der Bundestagswahl, dass die Amerikaner bereit seien, über ein solches Abkommen zu verhandeln.

Den Wählern ist die Snowden-Affäre egal

Es gibt ein Video von einem Auftritt Angela Merkels in der Alten Reithalle in Stuttgart. Bis zur Wahl sind es da noch vier Wochen. Die Menschen in der Halle fragen Merkel alles Mögliche, ein paarmal zu Stuttgart 21, ob sie sich einen Gedankenaustausch mit der Linkspartei vorstellen kann, wie sie sich fit hält. Nach einer Stunde sagt Merkel, es sei jetzt acht Uhr, sie müsse bald weg. Da steht ein Mann auf, kurze graue Haare, Holzfällerhemd, er will über die NSA reden und fragt, ob Merkel glaube, Deutschland werde noch immer von den drei westlichen Besatzungsmächten kontrolliert.

Es bleibt die einzige Frage zu diesem Thema. An solchen Abenden sieht sie, wie egal ­ihren Wählern die Snowden-Affäre ist. Bei der Wahl legt Merkels CDU um 8 Prozent zu.

Merkel folgt in der NSA-Affäre letztlich ihrer ­Überzeugung: dass sie die gesamte Maschine am Laufen halten muss. Offiziell kritisiert sie die Spähattacken, indem sie Selbstverständliches sagt, was gut klingt. „Auf deutschem Boden hat man sich an deutsches Recht zu halten.“ Aber eigentlich tut Merkel: nichts.

Sie passt ihr Management also dem Gefühl der Deutschen an, mal wieder. Warum die transatlantischen Partner vor den Kopf stoßen, wenn die meisten Deutschen doch eh achselzuckend auf ihre Facebook-Timeline klicken? Was ist gut für die Deutschland-AG, das ist die Frage. In diesem Fall schätzt Angela Merkel die guten Verbindungen in die USA als wichtiger ein als die Aufregung in der linksliberalen Netzszene. Die Snowden-Debatte ist vor allem eine Mediendebatte. Davon allein macht sie ihre Politik nicht abhängig.

Auch als herauskommt, dass die Dienste sogar Merkels eigenes Handy abhörten, bleibt sie bei ihrer Strategie: Sie sitzt es aus. Wieder reagiert Merkel empört. „Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht“, sagt sie. Hinter den Kulissen versucht ihr außenpolitischer Berater Christoph Heusgen, mit dem Weißen Haus ein No-Spy-Abkommen auszuhandeln. Die Süddeutsche Zeitung veröffentlicht später den E-Mail-Verkehr zwischen ihm und seinem Konterpart im Weißen Haus, Karen Donfried. Es beweist, dass ein solches Abkommen praktisch undenkbar war.

Immer wieder bittet Heusgen Donfried um Zugeständnisse, wenigstens um einen Satz, der Zuversicht verspricht, sie blockt ab. Im Januar 2014 schreibt Donfried knapp: „Dies wird kein No-Spy-Abkommen werden.“ Beste Grüße, Karen.

Die Idee ist tot, aber trotzdem hält Merkel die deutsche Öffentlichkeit hin. Ihre Regierung tut wochenlang so, als sei weiter ein erfolgreicher Abschluss möglich. Aber zu ernsten Ansagen ringt sich Merkel nicht durch. Sie setzt sich nicht dafür ein, die Abkommen zwischen den USA und der EU zum Austausch von Bankdaten zu kündigen. Sie prangert nicht den Verstoß gegen europäische Datenschutzregeln an. Sie droht nicht damit, die TTIP-Verhandlungen zu stoppen.

Manchmal ist Nichtstun das Klügste. Keiner weiß das besser als Merkel. Interessanterweise beweist die Affäre aber auch, das selbst sie sich ab und zu verrechnet. Abhören unter Freunden geht gar nicht? Jürgen Trittin muss in dem Pankower Café lachen. „Offensichtlich doch. Der Satz war schon falsch, als sie ihn gesagt hat.“

Alles, was er über diese Affäre erzählt, klingt abgeklärt. Die ganze Aufregung sei etwas albern gewesen, schließlich seien Geheimdienste dazu da, Informationen zu beschaffen. Sagt Trittin heute. Damals griff er Merkel im Fernsehen scharf an. Schauspiel gehört zum Geschäft, auch für die Opposition.

Bei Fukushima schwenkt Merkel in die Stimmung der Deutschen ein, weil sie das selbst für richtig hält. Bei Snowden tut sie nichts, weil sie das auch für richtig hält und es den Deutschen egal ist.

Bei den Flüchtlingen hält sie an ihrem liberalen Kurs offener Grenzen in Europa fest, obwohl die Skepsis wächst. Warum?

Männer aus nordafrikanischen Staaten begrapschten, belästigten und beraubten Frauen in der Silvesternacht im Hauptbahnhof. Köln ist seither zum Synonym von Angst vor dem Fremden geworden. Köln, das sagen Spitzenpolitiker aller Parteien, wirkte wie ein Brandbeschleuniger. Seither grassiere die Angst vor Flüchtlingen. Köln, das sei Merkels neues Fukushima, schrieben viele Journalisten. Ihre Kehrtwende stünde nun bevor.

Doch sie blieb aus.

Alison Smale, die Times-Journalistin, wird von ihrer Redaktion nach Köln geschickt, nachdem die ersten Meldungen über die Ticker laufen. Smale telefoniert mit Opfern wie der 18-jährigen Johanna, die erzählt, sie sei permanent angefasst worden. „Ich habe so etwas noch nie in einer deutschen Stadt erlebt.“ Sie besorgt sich den Polizeibericht, der beschreibt, wie Frauen sogar „mit Fingern in die Vagina“ gegriffen wurde. Ihren Text druckt die New York Times auf Seite eins.

Smale hält die Kölner Attacken ebenfalls für eine „Zäsur“ in der Wahrnehmung der Krise. „Sie haben den Deutschen vor Augen geführt, dass gerade ein großes soziales Experiment in ihrem Land läuft.“ Ein Experiment, das manches ändern könnte, was den Deutschen lieb und teuer ist. Deutschland, sagt sie und lacht, sei ihr manchmal vorgekommen wie ein „great big Sweden“. Die Deutschen wollen gern die Guten sein, auch wenn andere das für naiv halten. Freunde in den Staaten fragen ­Smale: Wann wurde Deutschland eigentlich so gut?

Natürlich seien die Ereignisse entsetzlich für die Frauen gewesen, die davon betroffenen waren. Natürlich habe die Polizei riesige Fehler gemacht und die Kontrolle verloren. Aber den Kurs ändern in einer europäischen Krise, weil ein paar hundert betrunkene Männer durchdrehen? „Da schätze ich die Kanzlerin anders sein“, meint Smale. „Da sagt der sehr vernünftige Kopf von Angela Merkel: ‚No, it’s clear.‘ “

Silvester in Köln

31. Dezember 2015:Vor Mitternacht zeitweise Räumung des Kölner Bahnhofsplatzes, die Polizei hat 71 Persona­lien aufgenommen.

2. Januar:Polizeimitteilung: „Serie von Übergriffen“.

5. Januar:Angela Merkel spricht mit OB Re­ker.

9. Januar:CDU-Erklärung: Straftaten müssen Folgen für Asylanträge haben.

In der Tat verhält sich Merkel nach Köln kühl, während um sie herum der Radau lauter wird. Sicher, sie telefoniert sofort mit Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker, als das Ausmaß der Taten bekannt ist. Dann lässt sie ihren Sprecher Steffen Seibert mitteilen, diese „widerwärtigen Übergriffe“ verlangten eine harte Antwort des Rechtsstaats. Die Koalition beschließt in großer Eile ein Gesetz, dass es ermöglicht, ausländische Straftäter noch schneller auszuweisen als bisher schon.

Es ist: Business as usual. Ihren Kurs in der Flüchtlingskrise ändert Merkel nämlich keinen Millimeter.

Sie weigert sich, den ängstlichen Deutschen den Stopp des Zuzugs zu versprechen. Sie weigert sich, die Straftaten von wenigen Flüchtlingen auf alle zu übertragen. Und sie weigert sich, Ängste populistisch zu bedienen. Auf der CSU-Klausur in Wildbad Kreuth, die Anfang Januar stattfindet, fauchen sie deshalb enttäuschte CSU-Abgeordnete an.

NSA-Affäre

6. Juni 2013: Die Washington Post und der Guardian veröffentlichen die US-Überwachungsprogramme Prism, Boundless Informant.

9. Juni: Edward Snowden outet sich als Whistleblower.

Mitte Juli: Die deutsche Regierung fragt in den USA wegen No-Spy-Abkommens an. USA haben kein Interesse. Öffentlich sagt die Bundesregierung, es werde verhandelt.

22. September: Bundestagswahl, die Union gewinnt fast 8 Prozent.

23. Oktober: Der Spiegel: Merkels Handy abgehört.

20. März 2014: Bundestag setzt Untersuchungsausschuss zur NSA-Affäre ein.

Ihr Antrieb ist der Antrieb: Die Maschine muss laufen

Doch wie in der Snowden-Affäre macht Merkel einfach weiter, weil sie einen Schwenk für falsch hält. Sie bleibt ihrer Linie treu. Sie fragt nach dem Ergebnis für die Deutschland AG. Und stellt diesmal fest: Auch wenn die Umfragen gegen sie sind, für den gesamten Laden ist es besser, wenn die innereuropäischen Grenzen offen sind. Wenn die Flüchtlingsfrage gelöst wird. Wenn Europa sich dem Problem gemeinsam stellt.

Nicht um Umfragen geht es per se. Nicht um den eigenen Machterhalt. Nicht um Landtagswahlen. Nicht um große Reformen. Sondern darum, dass die Maschine funktioniert und läuft und läuft und läuft. Darauf richten sich die Überzeugungen der Kanzlerin. Der Antrieb ist ihr Antrieb.

Politik sei eine Wellenbewegung, sagte Merkel einmal. „Die kann man als Person zwar beeinflussen, und die Umstände sind mal besser und mal schlechter, aber im Grunde wünschen sich weder die Öffentlichkeit noch die Medien Gleichmaß, also geht es hoch und runter.“ Das war 2009, mitten in der Finanz- und Wirtschaftskrise. Manche sagten, Merkel handle zu langsam, zu unentschlossen. Anderen war sie zu schnell, zu brutal.

Vor einem Monat noch glaubten vier Fünftel der Deutschen, die Bundesregierung habe die Flüchtlingspolitik nicht im Griff. Vor einer Woche nun fragte die ARD, was die Menschen von Merkels Politik hielten. 54 Prozent sind mit ihrer Arbeit zufrieden, 8 Prozent mehr als im Monat davor.

Ist Angela Merkel noch die Kanzlerin der Deutschen? Man muss sich doch nur die Umfragen anschauen.

Ulrich Schulte, 41, leitet das Parlamentsbüro der taz. Er staunt immer wieder über Merkels Selbstbeherrschung. Sein Tipp: bei YouTube „Bierdusche Merkel“ eingeben

Daniel Schulz, 36, Redakteur der taz.am wochenende, war erstaunt, wie schön es direkt neben einem Atomkraftwerk sein kann

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