Entscheidung des BVerfG: Demokratie vor Völkerrecht
Das Bundesverfassungsgericht entscheidet: Der Bundestag darf völkerrechtliche Verträge später mit einfachen Gesetzen korrigieren.
Konkret ging es um einen türkischen Arbeitnehmer, der 2004 sowohl in Deutschland als auch in der Türkei Einkünfte erzielt hatte. Nach einem damals geltenden Abkommen mit der Türkei sollte der deutsche Fiskus nur den Teil des Einkommens besteuern, der in Deutschland erzielt wurde.
Deutschland besteuerte jedoch das gesamte Einkommen des Türken, weil jener nicht nachweisen konnte, dass er in der Türkei Steuern bezahlt hatte. Das Finanzamt berief sich dabei auf ein Gesetz von 2003, mit dem der Bundestag die Steuerehrlichkeit im Bereich von Doppelbesteuerungsabkommen erhöhen wollte (§ 50d Abs. 8 EStG).
Der Bundesfinanzhof (BFH) in München, das höchste deutsche Steuergericht, hielt das Gesetz von 2003 für verfassungswidrig und bat Karlsruhe um Prüfung. Laut Grundgesetz hätten die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ Vorrang vor deutschen Gesetzen. Der Bundestag könne vermeintliche Steuerschlupflöcher der Abkommen nicht nachträglich durch deutsche Gesetze schließen. Der sogenannte „treaty override“ (Vertragsübergehung) sei unzulässig.
Das Bundesverfassungsgericht stützte jetzt aber den Bundestag und lehnte den Vorstoß des BFH ab. Zwar sei der Satz „Verträge sind einzuhalten“ (Pacta sunt servanda) ein allgemeiner Grundsatz des Völkerrechts. Das könne aber nicht dazu führen, dass nun alle von Deutschland unterschriebenen völkerrechtlichen Verträge Vorrang vor deutschen Gesetzen hätten.
„Demokratie ist Herrschaft auf Zeit“
Wie im Grundgesetz vorgesehen hätten normale völkerrechtliche Verträge nach der Zustimmung des Bundestags nur den Rang eines einfachen Gesetzes. Und wie bei jedem Gesetz könne der Bundestag in späteren Gesetzen also auch wieder etwas anderes beschließen. Damit verletze er dann zwar den völkerrechtlichen Vertrag, aber das könne nur zu völkerrechtlichen Ansprüchen führen, etwa einem Kündigungsrecht der Gegenseite oder einem Schadensersatzanspruch.
Karlsruhe betonte: „Demokratie ist Herrschaft auf Zeit“. Es sei daher nicht akzeptabel, wenn der Bundestag durch Zustimmung zu einem bestimmten völkerrechtlichen Vertrag den Gesetzgeber auch in späteren Wahlperioden (mit vielleicht anderen Mehrheiten) binden könnte. Auch künftig kann der Bundestag also per Gesetz unliebsame Inhalte von völkerrechtlichen Verträgen korrigieren. Der Karlsruher Beschluss gilt allerdings nicht für EU-Verordnungen und -Richtlinien. Diese sind kein Völkerrecht und gehen als so genanntes „supranationales“ Recht den deutschen Gesetzen immer vor.
Auch die Europäische Menschenrechtskonvention kann der deutsche Gesetzgeber nicht einfach missachten, betonten die Verfassungsrichter jetzt. Diese ist als Vertrag des Europarats zwar Völkerrecht, hat jedoch wegen des im Grundgesetz enthaltenen Bekennnis zu den „unverbrüchlichen Menschenrechten“ (Artikel 1 Abs. 2) besonderes Gewicht.
In einem Minderheitsvotum erklärte Richterin Doris König, eine frühere Völkerrechtsprofessorin, sie lehne die Position der Mehrheit ab. Diese passe nicht zu „einer globalisierten Welt, in der die Staaten durch eine Vielzahl völkerrechtlicher Verträge miteinander verflochten sind“. Als Kompromiss schlug sie vor, dass der Bundestag nur in dringlichen und alternativlosen Fällen von völkerrechtlichen Verträgen abweichen kann. Sie konnte ihre Karlsruher Kollegen jedoch nicht überzeugen. Die Entscheidung wurde mit 7 zu 1 Richterstimmen gegen Doris König gefällt. (Az.: 2 BvL 1/12)
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