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Ein Gespräch im Reich der Toten

Ehrung Dankesrede zum Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

von Gabriele Goettle

Verehrtes Auditorium. Beim Herumgrübeln über Art und Inhalt meiner Dankesrede stieß ich auf Wielands „Briefe von Verstorbenen an hinterlassene Freunde“ und habe mich entschlossen, Johann Heinrich Merck selbst zu Wort kommen zu lassen, sozusagen im Reich der Toten ein Gespräch mit ihm zu wagen.

Mein Ansuchen um eine Audienz bei Herrn Kriegsrath Merck wurde von ihm gütig aufgenommen. Hier meine Aufzeichnung:

„Eine Geschichte wie die meinige ist bald erzählt. Ich will in der hier gebotenen Kürze gerne die Gelegenheit dazu ergreifen. Sie sehen mich allerdings belustigt darüber, dass Sie einen nach mir benannten Literaturpreis erhalten. Ich kann Ihnen versichern, ich selbst wäre für einen solchen Preis nie in Erwägung gezogen worden. Indes, es freut mich, dass die Nachwelt meinen Namen noch kennt.

Davon war nicht auszugehen. Mein Leben war begleitet von der ständigen Bedrohung, in eine prekaire Existenz zu geraten. Längere Zeit war ich ohne Stelle, lebte vom Gelde der Mutter und von Übersetzungen. Ich musste eine Ehe eingehen und fand, zu meinem Glück oder Unglück, endlich eine Anstellung, in der ich aufsteigen konnte zum Kriegszahlmeister und schließlich bis zum wirklichen Kriegsrath. Aber ich war mit 500 bis 600 Gulden per annum nichts als ein schlecht bezahlter subalterner Beamter in Fürstendiensten. Unter den hohen Herrschaften hielt ich mich ungern und nur von Berufs wegen auf. Viel lieber war ich ein Prosaist, leidenschaftlicher Briefschreiber, Verleger, Journalist, Recensent und Beiträger der wichtigsten Literaturzeitschriften. Vorübergehend ritt ich mit Goethen im kleinen Kreise das Steckenpferd der Empfindsamkeit. Gerne verfasste ich Essays zur Kunst und Literatur, war auch Kunsthändler für die Fürsten, schrieb Satiren, Erzählungen und Fabeln. Doch, obgleich ich mit der literarischen und künstlerischen Welt in enger Verbindung stand und so manche Fäden bey mir zusammengingen, blieb ich doch ohne gehörigen Erfolg. Meine Kunst war brotlos. Das alles hätte man ebenso gut gleich auf den Abtritt tragen können. Also habe ich Schluss gemacht mit der poetischen Trödelbude und bekam allmählich einen Ekel vor der Schriftstellerey.

Noch mehr Ekel flößte mir der Hof ein, besonders unter dem alten Landgrafen. Die Parforcejagd habe ich verabscheut. Jahr um Jahr im Spätherbst sah man nichts als Prinzen, Livreen und große Jagden, wo mit 40 Pferden ein armer einzelner Hirsch, von dem Kasten an, worin er eingesperrt war, bis 500 Schritt weit zu seinem Tode, mit großem Jubelgeschrey gejagt wurde. Mein junger Landgraf Ludwig IX. hat bei seinem Regierungsantritt zwar die Parforcejagd aufgehoben, den Marstall aufgelöst, den Stallmeister und fast die gesamte Dienerschaft entlassen, alle Pferde verkauft, ebenso die Hunde. Sogar Theater, Oper und die Folter wurden abgeschafft. Dafür aber ließ er einer anderen Passion freien Lauf, dem Spielen mit seinen Soldaten. Täglich komponierte er Militärmärsche, zu denen er seine Truppen in glanzvollen Paraden aufmarschieren ließ. Täglich musste sein Leibregiment in selbst ersonnenen Prachtuniformen exerzieren. Um Mitternacht marschierte eine Kompanie laut trommelnd durch die Stadt, so dass jeder Bürger aus dem Schlaf gerissen wurde. In Sichtweite meines Hauses ließ der Landgraf eine beheizbare Exercierhalle errichten. Die größte weithin. Sie verschlang 140.000 Gulden. Die hohen Militärausgaben – es waren wohlgemerkt Friedenszeiten – rissen regelmäßig ein Loch in meine Kriegskasse. Oft konnte ich nicht einmal die Besoldung ordentlich auszahlen.

Die pure Nothdurft

Um dieser Eintönigkeit zu entgehen, widmete ich mich in meinen späteren Jahren der Paläontologie, Mineralogie und Osteologie. Meine Trophäen waren nicht erjagt, ich habe sie gefunden im Boden und Gestein, besaß einige bemerkenswerte Fossilien, sogar ein versteinertes Krokodilskelett. Mein Haus glich bald einem Naturalienkabinett. Oft war meine Leidenschaft so groß, dass ich unter Hintansetzung von Frau und Kindern auf dem Schindanger Hirnkästen und Knochen vom Aase ausgrub und mir präpariert habe. Auch vergnügte ich mich mit dem Zeichnen, wo ich recht artige Ergebnisse erreichte. Besonders lieb und unentbehrlich aber wurde mir die Landwirtschaft. Um etwas mehr als die pure Nothdurft befriedigen zu können, mietete ich mir ein Gütchen in Arheilgen, eineinhalb Stunden von Darmstadt entfernt. Erdäpfel und Zuckererbsen zu pflanzen, meine Krauthäupter zu ernten unterm weiten blauen Himmel, war meine Errettung vom Stadtleben mit seinen Collegien, Kränzchen, Zirkeln. Ich empfand großen Respect vor der Vegetation, weil ich gewiss wusste, dass ich diesmal nicht ohne Frucht in der Welt arbeiten würde.

Hingegen ist mein Experiment, vermögend zu werden mit einer Baumwollfabrik, schmählich durch Concurse gescheitert. Ich war eine verlorene Gestalt. Es ist leider nun nicht anders, als dass wir alle nur durchs Geld zusammenhängen. Mir fehlte aber der merkantile Sinn, das Talent zur Bereicherung. Überhaupt war mir ein erfolgreiches Verhältnis zur Welt nicht vergönnt, was mich recht bitter machte.

Es gab zwei schmerzhafte Enttäuschungen in meinem Leben, die ich nie habe verwinden können: Den Fehltritt meiner Ehefrau mit anschließender Niederkunft eines Kindes, das nicht meines war. Und zum Zweiten, die Verwandlung Goethes von einem freien Geist in eine Exzellenz. Sturm und Drang, sage ich, aber nach dem Amte! Es ist mir unbegreiflich, wie ein Mensch sich so unähnlich werden kann! Ich hatte ihn sehr lieb gewonnen, war ihm gerne älterer Freund und Förderer. Dass ich „Clavigo“ und auch „Stella“ einen Quark nannte, ließ er sich gefallen, auch dass ich seinen „Götz von Berlichingen“ auf meine Kosten habe drucken lassen. Aber meine Kritik am „Werther“ nahm er mir zeitlebens übel. Ich konnte indes nicht gutheißen, dass er in einem schnell hingeworfenen Text seine unselige Liebe zu Charlotte Buff sogleich verarbeitet und die Angebetete kalten Herzens kompromittiert hat. Der unmäßige Erfolg des „Werther“ fegte freilich alle Einwände hinweg. Mein geliebter Schulfreund Georg Christoph Lichtenberg sprach mir mit seinem Bajonettwitz aus dem Herzen. Er meinte: Die schönste Stelle im „Werther“ ist die, wo er den Hasenfuß erschießt.

Hintergründe

Der Preis:Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay wird seit 1964 von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben und zusammen mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa und dem Georg-Büchner-Preis in Darmstadt verliehen. Die Zeremonie fand am vergangenen Samstag, dem 31. 10. statt. Gabriele Goettle konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht anwesend sein, ihre Dankesrede wurde verlesen. Bisherige Preisträger des Johann-Heinrich-Merck-Preises waren unter anderem Carolin Emcke, Heinz Schlaffer, Klaus Theweleit und Peter Rühmkorf.

Das Preisgeld:Der Preis ist mit 20.000 Euro dotiert, gestiftet von dem Chemie- und Pharmaunternehmen Merck. Das Preisgeld gibt Gabriele Goettle, wie sie am Schluss ihrer Dankesrede ausführt, an die pharmakritische Initiative BUKO-Pharmakampagne in Bielefeld weiter. Nicht nur in ihrem bislang letzten Buch, „Haupt- und Nebenwirkungen. Zur Katastrophe des Gesundheits- und Sozialsystems“ (Verlag Antje Kunstmann), hat sie sich kritisch mit Pharma­unternehmen aus­einandergesetzt.

Die Preisträgerin: Gabriele Goettle wurde 1946 in Aschaffenburg geboren. Ihre Texte erscheinen seit vielen Jahren regelmäßig in der taz.

Goethen schrieb mir im Oktober 1775, dass er mit dem Herzog Carl August nach Weimar gehe, und er bat mich, wie so oft, ihm zehn Carolin zu leihen. Ein Carolin zu elf Gulden. Eine Summe, die ich nicht so leicht verschmerzen konnte, allein ich gab sie ihm. Am 7. November 1775 kam Goethe in Weimar an. Ich versichere Ihnen, es ist die volle Wahrheit: Er trug Werthers blauen Rock, gelbe Weste, weißes Hemd, gelbe Hose, den runden Filzhut und Stulpenstiefel. Und sofort wies der Herzog seine Schneiderei an, diese neue offizielle Hoftracht herzustellen. Ich war sehr verwundert, dass er sich damit begnügte, am Weimarer Hofe herumzuschranzen und zu scharwenzeln! Später ist unser Discourse abgebrochen. Bey seiner Ministerschafft ist er mir nur noch mit einer Trockenheit u. Kälte begegnet, als ob ich nicht ein alter Freund wäre, sondern ein subalterner Diener oder ein lästiger Supplicant. Meine Arbeit in Wielands Redaktion nannte er „dilettantischen Productionstrieb“.

Als Carl August mich aus Darmstadt erlösen und in seine Dienste berufen wollte, legte Goethe sein Veto ein. Er schrieb mir mit kaltem Hochmuth: „Der Herzog hatte etliche Mal große Lust dich als Cammerrath nach Eisenach zu haben, aber ich sagte ihm, alte Bäume verpflanzen sich nicht gut. Leb wohl.“ Auch mit dem armen Lenz hat er ein übles Spiel getrieben und ihn über Nacht zum Teufel jagen lassen. Als seinen größten Verrat aber erachte ich den an der Aufklärung. 1783 votierte er kalten Herzens für die Vollstreckung des Todesurteils an der jungen Magd und Kindsmörderin Anna Catharina Höhn. Ungeachtet dessen, dass sein Fürst Carl August gewillt war, die Todesstrafe für Kindsmörderinnen abzuschaffen. Nach der Enthauptung schickte Goethe Kopf und Körper mit dem Schinderkarren nach Jena, an seinen Freund, den Anatomieprofessor Justus Christian Loder, der dort ein anatomisches Theater betrieb.

Revolutionäres Paris

Im Januar des Jahres 1791 hat mich mein Fürst ins revolu­tio­näre Paris geschickt mit dem Auftrag, nach Bestrebungen einer Contre-Revolution Ausschau zu halten. Aber es gab keine. Ich habe an Wieland geschrieben, dass die Constitution steht. Das waren freilich schlechte Nachrichten für die Fürsten. Ich hingegen verspürte eine große Euphorie, alle Last und Melancholie ist von mir gewichen. Ich war genesen und sah vor mir, was der Mensch einmal zu werden vermag. An La Terreur war nicht zu denken. Im Februar 1791 kam ich ins erstarrte Darmstadt zurück und musste sehr bald erfahren, dass sich eine Koalition bildete unter dem Kaiser von Österreich, dass ein Contre-Revolutionärer Marsch auf Paris geplant war. Ich hätte als Kriegsrath mit marschieren müssen. All meine Euphorie, Freude und Zuversicht hat mich jammervoll verlassen. Ich konnte meiner tiefen Verzweiflung nicht mehr Herr werden. Am frühen Morgen des 27. Juni 1791 verließ ich meine schlafende Familie, ritt auf meinem Braunen von Arheilgen nach Darmstadt, versorgte ihn, strich über seine Nüstern und erschoss mich sodann in meiner Kammer.

Und nun, werthe Dame, wäre es überaus liebenswürdig, wenn Sie mir abschließend aus dem Sectionsprotokoll meines Freundes Dr. Reuling vorlesen würden.“

Gern, also, die Obduktion dauerte von 11–1 Uhr und fand drei Tage nach Ihrem Tod in der Torstube Ihres Hauses statt. Ich zitiere:

„[. . .] Nachdem die äußeren Bedeckungen abgenommen und die Brust mit der gehörigen Vorsicht geöffnet worden, fanden wir, dass der Schuss auf der 2ten Rippe von oben herab in die Brust eingedrungen, dieße 2te Rippe dicht am Sterno abgeschossen und 2 Zoll lang ganz verschmettert ware. Die 4te Rippe ware 2 Zoll lang vom sterno entzwey gebrochen, und auf dießer, sowohl als auf der 5ten, ware ein starker blutunterlaufener Fleck. Die rechte Lunge ware zusammen gefallen, die linke Brust-Höhle aber ware voller dünnem und schwarzem Bluth, das stark roche. Der linke Lungenflügel ware fast gänzlich zerstört und wurde mit kleinen Stücken herausgenommen; Nachdem dieße und das ausgetretene Bluth herausgeschafft ware, so fanden wir das Herz und dessen Beutel, bis über die Mitte durch und durch aufgerissen; vom linken Herz-Ohr sahe man keine Spur mehr. Die großen Blutgefäße nebst dem Schlund waren gänzlich abgeschossen, und die Luft-Röhre ware entzwey. Durch die 8te Rippe, die zerschossen ware – dichte an der rechten Seite des Rückgrades – ginge der Schuss wieder heraus, und hier lage auch der Pfropfen vom Schuss, der aus Löschpapier gemacht ware und den ich wegen des großen Gestankes wegwarfe.

„Meine Kunst war brotlos. Also habe ich Schluss gemacht mit der poetischen Trödelbude“

Nachdem wir nun den Unterleib auch geöffnet hatten, so fanden wir den Magen etwas aufgetrieben, und er enthielte ein wenig Weiß-Brod. Die Leber ware größer als gewöhnlich, und der Große Leberlappen ware ganz verhärtet. In der Gallen-Blase ware nur wenige Galle. Das Milz ware aufgetrieben und dahere viel größer, als es im gesunden Zustand zu seyn pfleget, und ware überdießes gänzlich verhärtet; ebenso ware das Pankreas und die Gekrösedrüsen nicht zu ermitteln. Die übrigen Eingeweide waren gesund, und alle Blutgefäße waren leer. Daß diese Verwundung nun (die auf die Vermuthung eines gefallenen Schusses den 27ten morgens um 7 Uhr geschehen) absolute tödtlich geweßen, daran wird wohl niemand zweifeln. “

Der Kriegsrath lächelt in sich hinein und sagt: „Den schlechten Schützen und den Hypochonder kann man mir nun nicht mehr nachsagen. Nehmen Sie meinen Dank entgegen. Leben Sie wohl. Gott erhalte Sie alle seelig, besonders bewahre er Ihr systema abdominale.“

Und nun möchte ich noch eine Erklärung abgeben:

Da ich kein Geld von einem Pharmakonzern behalten kann, werde ich mein Preisgeld an die unabhängige pharmakritische Initiative BUKO-Pharmakampagne in Bielefeld weiterreichen. Diese international vernetzte „Bundeskoordination“ bietet seit mehr als 30 Jahren den Pharmakonzernen durch Aufklärung und Aufdeckung von Missständen die Stirn.

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