Flüchtlingspolitik der Bundesregierung: „Zeit für einen Schulterschluss“
Der Innenminister will die Flüchtlingsfrage anpacken: Milliarden sollen investiert werden. Menschen vom Balkan wird mit harter Kante gedroht.
Es ist ein Weckruf. Kurz zuvor hatte das Bundesamt für Migration eine neue Prognose verschickt: Dort rechnet man nun mit bis zu 800.000 Flüchtlingen in diesem Jahr. Es wäre ein einsamer Rekord. Noch zu Jahresbeginn war das Amt von 300.000 ausgegangen. Mit der neuen Prognose würde die bisherige Spitzenzahl nach der Wende – 438.191 Asylanträge im Jahr 1992 – weit übertroffen.
„Wir müssen diese Herausforderung gemeinsam annehmen und werden sie meistern“, sagt de Maizière. Die Botschaft ist klar: Die Flüchtlingsfrage wird jetzt oberste Staatsaufgabe. Auch Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) sieht inzwischen eine Herausforderung, die „unser Land verändern wird“. Ab Montag wird nun ein Koordinierungsstab zwischen Bund, Ländern und Kommunen die Flüchtlingsversorgung steuern. Dazu kündigt de Maizière ein ganzes Maßnahmenpaket an.
Vorderstes Ziel sei es, die Erstaufnahmestellen auszubauen. Der Bund sieht einen Bedarf von bis zu 150.000 Plätzen – bisher gibt es 45.000. Bauvorschriften wie Brand- oder Emissionsschutz müssten gelockert werden, um Immobilien schnell als Unterkünfte nutzen zu können. Das Migrationsbundesamt wird vier „Entscheidungszentren“ bauen – in Nürnberg, Mannheim, Berlin und Unna. Dort sollen in einem halben Jahr 200.000 Anträge abgearbeitet werden. Mehrere Länder holen Beamte aus dem Ruhestand, um das Bundesamt zu unterstützen.
Laut Gabriel sind 3 Milliarden Euro allein für die Kommunen nötig, um Flüchtlinge zu versorgen. Bisher steuert der Bund 1 Milliarde Euro bei.
Abschiebungen auch im Winter
De Maizière sagte, der „dramatische“ Anstieg der Flüchtlingszahlen sei „unvorhersehbar“ gewesen. Deutschland müsse sich aber „auf einige Jahre“ auf dieses Niveau einstellen. Die Konflikte im Nahen Osten und Nordafrika seien ungelöst, die Lage in Griechenland habe sich „drastisch“ verschärft.
Zuletzt zählte die Polizei allein in Bayern, Endpunkt der „Balkan-Route“ aus der Türkei, fast 7.000 neue Flüchtlinge täglich. Noch im Juni waren es einige Hundert pro Tag. Das Bundesamt kommt mit der Registrierung nicht mehr hinterher. Inzwischen dauert es mehrere Wochen, bis Neuankömmlinge ihren Asylantrag stellen können. So wurden im Juli 37.531 Anträge gestellt – eingereist waren aber fast 83.000 Flüchtlinge. Seit Jahresbeginn wurden fast 310.000 Einreisende erfasst. Nur 218.221 konnten bisher einen Antrag stellen.
Die Regierung will nun stärker differenzieren: schneller Schutz für Bürgerkriegsflüchtlinge, harte Kante gegen Balkan-Einreisende. Bereits jetzt müssen Bewerber aus Syrien, dem Irak oder Eritrea nur noch Fragebögen einreichen, Anhörungen entfallen. Flüchtlinge vom Balkan, die zu 99 Prozent abgelehnt werden, sollen dagegen in den Erstaufnahmestellen verbleiben und möglichst Sachleistungen statt Taschengeld erhalten. Abschiebungen sollen auch im Winter stattfinden, Albanien, Kosovo und Montenegro sollen sichere Herkunftsstaaten werden. 70 bis 90 Prozent aller Balkan-Flüchtlinge kämen derzeit nach Deutschland. Das sei „inakzeptabel“, so de Maiziere.
Die Balkan-Pläne dürften auf Widerstand stoßen. Die Linke warnt vor „verfassungswidrigen“ Einschnitten; die Grünen sperren sich dagegen, dass mehr Staaten als „sicher“ deklariert werden. Und den Taschengeldvorstoß nennt selbst Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) „enttäuschend“, da dieser Fremdenfeindlichkeit schüren könne. De Maizière hält dagegen: „Die Zeit für gegenseitige Schuldzuweisungen ist vorbei.“
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