Reinhard Kahl: "Kein Bulimielernen"

Hirnforscher, Lehrer und Philosophen kommen nach Hamburg, um über Schule zu reden. Eingeladen hat Reinhard Kahl, der Lehrmethoden jenseits der "Maschinengrammatik der alten Arbeitswelt" fordert.

Bitte keine Belehrung. Bild: dpa

taz: Am Wochenende finden in Deutschland vier Bildungskongresse statt. Bei Ihrem Kongress "Treibhäuser & Co" mussten sich Interessierte sogar bewerben. Was ist das Besondere an Ihrer Veranstaltung?

Reinhard Kahl: Für unseren Kongress hatten sich in kurzer Zeit 900 Leute angemeldet. Die mussten alle begründet, warum sie teilnehmen möchten. Sie haben interessante Ideen, machen eigene Schulen oder tun was fürs neue Lernen. Leider haben wir nur für 460 Teilnehmer Platz.

Was ist das Ziel Ihres Kongresses?

Dass sich im deutschen Bildungssystem etwas ändern muss, ist in aller Munde. Ich aber habe festgestellt, dass es neben dem vielen Jammern, das man überall hört, längst erstaunlich viele intelligente Alternativen gibt. Der Kongress ist der Versuch, diese Intelligenz der Praxis mit sich selbst ins Gespräch zu bringen.

Klingt etwas seltsam.

Ist es aber nicht. Ich treffe dauernd wunderbare Leute aus der Bildungspraxis und bin erstaunt, wie viele von denen sich noch gar nicht kennen. Ein Beispiel: An der Universität zu Köln forscht Gerd Schäfer darüber, wie Kinder mit Natur und Naturwissenschaft umgehen. Der Lehrer Salman Ansari hat an der Odenwaldschule in Heppenheim etwas ganz Ähnliches gemacht. Die tun das, ohne voneinander zu wissen. Wenn sie sich aber nicht kennen, können sie sich auch nicht austauschen. Wir wollen interessante Schulprojekte bekannt machen - und Lehrer damit anstecken.

REINHARD KAHL (59) ist Bildungsreformer, Publizist und Regisseur und beschäftigt sich mit Fragen des Lernens. Er ist Autor des bekannten Dokumentarfilms "Treibhäuser der Zukunft - Wie Schulen in Deutschland gelingen".

Am Samstag, den 22.9. beginnt in Hamburg der erste Kongress der Schulerneuerer "Treibhäuser

& Co".

Hartmut von Hentig, einer der einflussreichsten Pädagogen Deutschlands, hält die Eröffnungsrede. Dabei sein werden Gründerinnen, wie Ulrike Kegler von der Montessori-Oberschule in Potsdam und Heike Gruschke, die eine dreisprachige Grundschule mit jahrgangsübergreifendem Unterricht entwickelt hat, sowie Ulrich Klotz von der IG Metall. Außerdem nehmen Hirnforscher, Philosophen und Lehrer teil, die alle eines gemeinsam haben: dass sie Schule und Lernen neu denken. CIF

Viele Lehrer stöhnen doch jetzt schon, dass sie völlig überlastet seien

und die werden sich nicht beteiligen. Aber man macht immer wieder die merkwürdige Beobachtung, dass diejenigen, die ohnehin viel machen, noch mehr übernehmen. Heute sind Lehrer, die eine zum Lernen herausfordernde Pädagogik machen wollen, längst nicht mehr so isoliert wie vor 20 Jahren.

Was müsste sich denn in den deutschen Schulen ändern?

Wir haben in Deutschland stärker als anderswo die Tradition, dass Kinder in der Schule belehrt, klein gemacht und beschämt werden. Das richtige Wissen wird von oben nach unten verordnet, steht in Lehrplänen und Schulbüchern und soll angewendet werden. Das fördert eine Mentalität des Ausführens. Solche gedemütigten Menschen hat man früher im Bergbau oder am Fließband gebraucht. Doch die Gesellschaft und die Arbeitswelt sind auf Menschen angewiesen, die selbst denken, Probleme lösen und eigene Vorstellungen haben. Leider wird Schule noch immer von dieser Maschinengrammatik regiert.

Wie sehen die Vorbildschulen aus, die es in Deutschland gibt?

Alle guten Schulen sind enorm eigenwillig - und haben dennoch viel Ähnlichkeit. Zum Beispiel arbeiten die Lehrer dort zusammen und bauen Strukturen auf, die sie selbst organisieren können. Und sie halten nichts vom Bulimielernen, wie es in vielen deutschen Schulen üblich ist: nämlich schnell viel reinstopfen, dann rasch ausspucken. Nach kurzer Zeit ist das Meiste wieder vergessen. Das Spannende ist: Gute Ideen und Erfahrungen können anstecken - eins zu eins kopieren lassen sie sich nicht.

Kann eine Schule von sich behaupten: "Wir arbeiten nach eigenen Methoden"?

Wenn Schulen selber anfangen, etwas auszuprobieren, werden sie eigentlich von niemandem gehindert. In der Bodenseeschule in Friedrichshafen stehen zum Beispiel jeden Morgen die ersten drei Stunden für freie Stillarbeit zur Verfügung. Jeder Schüler macht in dieser Zeit, was ihm wichtig ist. Das ist der geniale Lernprozess solcher Schulen. Die Schüler machen nicht irgendetwas. Sie kriegen heraus, was sie wollen, und natürlich auch das, was ihnen fehlt. Auch die interessanten Fehler.

Und das läuft einfach so?

Nein. Das geht natürlich nur, weil die Schule nach dieser Hentigschen Zauberformel arbeitet: Regeln, Rituale, Reviere. Dort hat man dann R hinzugefügt: Rhythmen, Rock n Roll und volle Regale.

Volle Regale? Was ist daran Besonderes?

Im Klassenzimmer ist viel Material vorhanden, das die Lehrer zum großen Teil selbst hergestellt haben. Die Lehrer arbeiten in solchen Schulen bestimmt mehr - aber sie arbeiten wirkungsvoller und befriedigter. Es ist nicht diese furchtbare Angestrengtheit, die entsteht, wenn man ins Leere greift. Die Lehrer haben den Vorteil, Resonanz zu erleben.

Fehlt für so etwas nicht ganz einfach das Geld?

Natürlich muss der Staat auch finanziell mehr tun. Wenn Politiker wüssten, dass der Zustand der Schulen wahlentscheidend wäre, würden sie auch mehr Geld dafür zur Verfügung stellen. Aber immer wieder erfolglos darauf hinzuweisen bringt wenig. Vielen guten Schulen gelingt es ja auch durch ihr Engagement, ihre Ressourcen zu vergrößern.

Das setzt engagierte Eltern oder zumindest ein PR-Interesse von Sponsoren voraus. Für ohnehin benachteiligte Schulen wäre es dann doch wieder schwieriger.

Das muss nicht sein. Die Grundschule Kleine Kielstraße in Dortmund ist ein Gegenbeispiel. Sie hat einen Migrantenanteil von über 80 Prozent. In der Regel wird so etwas als Begründung genommen, warum die Kinder auf die Dauer schlecht Deutsch sprechen. Doch die Lehrer sind anders darangegangen und haben gesagt: Die Kinder werden nicht gut Deutsch lernen, wenn ihre Mütter die Sprache nicht beherrschen. Statt das einfach nur zu beklagen, wurden Deutschkurse für die Mütter eingerichtet. Das Geld dafür hat die Schule bei einer Wohnungsbaugesellschaft besorgt, die in der Gegend sehr viele Häuser unterhält. Weil viele Mütter sagten, sie könnten wegen ihrer kleinen Kinder nicht kommen, hat man auch noch eine Kinderbetreuung eingerichtet - an der auch ältere Schüler beteiligt sind.

Ist die Dortmunder Schule ein einsamer Fall, oder gibt es andere erfolgreiche Beispiele?

Die Erika-Mann-Grundschule in Berlin-Wedding hat eine ähnliche Schülerschaft. Sie macht viele Theaterprojekte, bei denen die Stücke von den Schülern selbst entwickelt werden. Der Schulhof wurde nach Plänen von Schülern umgestaltet, und jedes Jahr wird in den Sommerferien ein Flur mit Architekturstudenten völlig verwandelt. Die Erika-Mann-Grundschule ist ein Ort, zu dem man gerne geht - im Gegensatz zu den meisten Schulen in Deutschland, die extrem hässlich sind und wo Lehrer und Schüler so schnell wie möglich wieder verschwinden.

Lernen die Schüler dadurch auch mehr?

Tatsächlich liegen die Testergebnisse der Erika-Mann-Grundschüler bei Vergleichsarbeiten weit über dem, was man von Kindern mit dem dort vorherrschenden sozialen Hintergrund erwarten würde. Beim Theaterspielen, das hat man dort herausgefunden, lernen die Schüler am besten Deutsch. Sie machen außerdem die Erfahrung, dass sie wichtig und willkommen sind, dass viel in ihnen steckt und dass man ihnen etwas zutraut.

Wenn das so viel erfolgreicher ist, warum unterrichten dann nicht alle Lehrer so?

Viele Lehrer trauen sich nicht und glauben auch nicht, dass eine Schule, die Freude macht, bessere Leistungen bringt. Sie haben allerdings auch keine angemessene Ausbildung. Sie studieren ihr Fach, kommen dann in die Mühle des Referendariats, wo sie für die Schulstruktur der drei Arten zugerichtet werden. Bei der Planung einer Schulstunde sollen sie zum Beispiel vorher festlegen, bei welchem Thema sie in der 17. Minute angekommen sind, und schon vorher benennen, welche Schülerantwort sie auf eine bestimmte Frage erwarten. Nach solch einer Ausbildung sind viele Lehrer defensiv, ängstlich und arrogant.

INTERVIEW: ANNETTE JENSEN

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