Kleiner Korrespondenz-Knigge: Takt und Ton im Mailverkehr

Eine E-Mail ist schnell geschrieben und abgeschickt, und ebenso schnell kann man sich im Ton vergreifen - denn ein Brief bleibt es doch. Eine Handreichung.

"Liebste Tante Waltraud..." - in der elektronischen Korrespondenz gelten andere Regeln, als beim Tinten-klecksen. Bild: dpa

Wie unpassend. Da lief in den elektronischen Briefkasten eine Mail ein, deren Verfasser am Ende der Mitteilung mit "liebe Grüße" schloss. Diese Person war mir unbekannt, aus der Mitteilung ging hervor, dass, offenkundig per Massenversand aus einer Adressverwaltung heraus, in Bälde ein Festival der unorthodoxen Musik in Soundso stattfinden werde - und verheißen wurde dieser Termin als "Kult".

Eine schwer zu ertragende Kontaktaufnahme war es jedenfalls, denn erstens fühlte ich mich ausgeschlossen, weil mir erstens dieser sogenannte Event noch niemals als solcher zu Ohren kam, zweitens offenbar die Verfasserin in schlechtem Marketingdeutsch alles zum Kult aufzufönen bereit war - denn Kult ist ja niemals Behauptung im Vorwege, sondern allenfalls Feststellung im Nachhinein. Am meisten ärgerte aber, dass mir da einer "liebe Grüße" angedeihen ließ. Liebe Grüße? Ist das nicht eine Formel, die - abgesehen von der Frage, wie ein Gruß lieb sein kann, denn es gibt ja keine "lieblosen Grüße" - einander nahe Stehenden vorbehalten sein müsste?

Sehr geehrter Herr, sehr geehrte Frau ... Mit freundlichen Grüßen. In der geschäftlichen Kommunikation in Briefmarkenpost nach wie vor gebräuchlichste An- wie Abrede. Neutral und weder schroff noch desinteressiert. Für ein Intro bei Briefen an Behörden und anderen Institutionen sowie Unternehmen stets geboten.

Lieber ... liebe Grüße. Persönlich gemeinte, freundlich inspirierte Form der Anrede - die Abrede gibt dann Rätsel auf, besser: wirkt dann unpassend, wenn der oder die AbsenderIn keine persönliche Beziehung zum Adressaten hat. Die Verkürzelung der Abrede auf "lg" ("liebe Grüße") wirkt nur dann stimmig, wenn das Verhältnis zwischen AbsenderIn und EmpfängerIn bereits fraglos informellen Charakter hat.

Herzlich, herzliche Grüße. Für den Fall besonderer Zugewandtheit, auch im geschäftlichen Kommunikationstransfer, ist diese Form der Abrede ein Signal, das einerseits das bereits gewonnene Vertrauen ratifiziert, andererseits Vertrauen zu gewinnen wünscht, formuliert in eine Floskel, die, möglicherweise in der Sie-Form, die Balance zwischen Nähe und Distanz am zivilisiertesten wahrt.

Groß- und Kleinschreibung. In elektronischen Briefen darf die konsequente Kleinschreibung benutzt werden - in klassischer Post jedoch nur dann, falls eineR als exzentrisch zu gelten beansprucht. Achtung: Auch nach den neuen Rechtschreibregeln ist die Großschreibung von Personalpronomen (Du, Sie, DeinE, Euch, IhrE, EureN) erlaubt - wird vom Adressaten vielleicht sogar als besondere kommunikative Delikatesse gelesen.

Nein, nein, nein. Da gibt es nix zu meinen, aber Abreden mit Floskeln wie "tschüssikowski", "tschaui", "bis denne", "hallöchen auf weiteres" oder ähnliches Sprachgeschmeiß mögen individuell gemocht werden, aber, angewandt in Verhältnissen, die weder eng freundschaftlich noch familiär sind, wird nur riskiert, quasi mit dem Brief auf Anhieb gelöscht zu werden - elektronisch per Tastendruck ist es am einfachsten.

Absolut jeden Distanzwunsch missachtend, so oder so. Und das wirft Fragen auf: Leben wir in einer Gesellschaft ohne Distanz? Quasi in einer allzeit zu jeder Pampigkeit bereiten Community? In einem Dorf, in einer Wohngemeinschaft, in der die Lebensmittelvorräte der anderen vertilgt werden, ohne um Zustimmung zu bitten? Was also erlaubte sich der Massenmailversender? Vermutlich, gnädig genommen, eine Floskel, und das gedankenlos. Wahr ist - gegen jedes Krakeel vom untergehenden Abendland -, dass das Briefeschreiben mit seinen elektronischen Möglichkeiten nicht verludert ist. Wurden früher Postkarten aus den Ferien versandt, sind es heute SMS mit angehängtem Foto. Muss auch reichen. Und wo einst mit Füllfederhalter ein Brief auf schwerem Bütten formuliert wurde, ist heute das Mailing. Das Internet hat das Kommunizieren insofern nur erweitert und, weil der nervige Gang zum Postamt und zum Erwerb von Briefmarken entfällt, jedwede Kontaktaufnahme viel leichter gemacht. Man schaltet den Computer ein, geht in die Leiste des Mailings - und beginnt zu schreiben. Unnötig ein Kuvert, kein Bangen, ob die persönliche Botschaft auch rasch empfangen wird.

Und insofern ist der technische Fortschritt, der diese Mailerei erst denkbar gemacht hat, ein passendes Äquivalent zu dem, was Sozialwissenschaftler die Informalisierung unserer Gesellschaften nennen.

Das Steife früherer Takt-und-Ton-Not ist entfallen. Achtundsechzig mag als Chiffre vom deutschen Übergang vom Sie als Muss zum Du als gesuchte persönliche Anrede gelten, aber das Du galt schon zuvor als gängige Form des sprechenden Miteinanders in Gewerkschaften, Sozialdemokratie, seither aber auch in akademischen Kreisen.

Was einst korsettiert war, unterstrichen durch als natürlich empfundene Rangunterschiede, als Kommunikationsmuster, beispielsweise beim Militär noch heute, wo die in der Hierarchie niedrigere Gruppe die höher stehende zu salutieren hat, war quasi entschnürt. Höflichkeit war keine gängige Tugend mehr, sondern benötigte Begründung. Warum sollte ein Miststück von Nachbar auf der Straße gegrüßt werden? Weshalb vor dem Bürgermeister katzbuckeln, nur weil er gerade einen kommunalen Verwaltungsjob hat? Wenn also ein Vorgesetzter besonders intensiv und herzenswarm gegrüßt wird, deutet das auf Gewogenheitssehnsüchte hin, nicht auf menschliche Anteilnahme als solche.

Aber die eigentliche Schwierigkeit ist eben die des Briefeschreibens. Briefe, außerhalb des Nötigen zu schreiben (Behörden, Institutionen, Unternehmen), haben immer eine Neigung zum Persönlichen.

Wie soll man ein "Hallo" am Anfang des Briefes deuten, wie ein "best" am Ende? Ist ein "Mit freundlichen Grüßen" am Ende einer Mail, die eventuell nahe Dinge erörtert hat, nicht zu unpersönlich, als Distanzformel ganz und gar nicht konvenierend? Ist einer verschmockt, schreibt er "mit vorzüglicher Hochachtung" ans Ende? Was soll man von Leuten halten, die ein "ahoi" zum Finale der Mittelung entbieten, was bloß sind überhaupt "beste Grüße" - und warum nicht gleich "gare", ach was, "ungare" oder "halbgare Grüße"?

Ist die Anrede mit dem Vornamen ein trautes Signal ("Georg, …"), und wenn ja, wie sähe die Chose aus, wäre dem Vornamen ein Ausrufezeichen angefügt: "Georg!" Ein kummervoller Wirrwarr für alle, die schreiben und mit diesem Vorgang es genau nehmen wollen. In erprobt freundschaftlichen Beziehungen liegen die Dinge schon klarer. "Birgit, liebe, …" oder "Haug, Geschätzter, …" verweisen auf Gewachsenes, heikel wird die Sache nur, wenn es um Possessives geht. Also um das Gefühl des Besitztums, des Zugewiesenen. Mit den Siebzigern geriet ja, sehr junge Menschen können das möglicherweise nicht wissen, eine Formel fast gänzlich außer Kraft, in der ein Briefschreiber mit einem "Dein (Franz, Hans, Karin, Renate und so weiter)" endete. Unmöglich, hieß es damals, niemals könne eine Person einer anderen gehören, deshalb müsse dieses Wort, das Besitztum anzeigen könnte, vermieden werden. In Wirklichkeit ist es eine sehr schöne Art der Formel, die Verbundenheit bekundet. Nicht eine, um Eigentumsrechte zu annoncieren. Sondern Gewogenheit, etwa im Sinne von Loyalität oder einer persönlichen Gunst, die recht eigentlich durch nur wenig, im Grunde gar nichts erschüttert werden kann.

Vielleicht wird dieser Gruß auch nur noch so selten genutzt, weil in lockeren Zeiten bei vielen doch eine gewisse Scheu wirkt, sich auf Beziehungen (Freundschaften, solche in Liebe) überhaupt restlos einzulassen: Einem Bekenntnis zum Absoluten einer Bindung steht doch gerade bei Heranwachsenden die Ratlosigkeit im Weg, heute diese, morgen andere Freundschaften (gefühlt immer gleich fürs ganze Leben) zu haben. So gesehen kann die Floskel von den "lieben Grüßen" ungefähr so ernst genommen werden wie eine x-beliebige Auskunft eines in studentischen Allerleizirkeln hockenden Menschen, der irgendwann mal davon spricht, hunderte von Freunden zu haben. Und man weiß: Flüchtiges nur, Passanten allenfalls, unwahrscheinlicherweise auch Freunde.

Und so führen alle Überlegungen zu keinem Ergebnis. Oder wenigstens einem, einem allerdings, das nicht recht froh macht. Jeder muss selbst herausfinden, was passt und was anstößt. Ein Zurück zur ständischen Gesellschaft, in der der Hausmeister vor dem Lehrer seines Kindes des Hut zieht oder der Beamte vor dem Amtsleiter einen Diener macht, gibt es nicht. Alles zu duzen, wie in Schweden oder Dänemark, wo lediglich die monarchischen Throninhaber per Sie angesprochen werden, ist in Deutschland undenkbar. In Briefen geht einer, der Pampiges oder Übergriffiges als Gruß wählt, nur das Risiko ein, umgehend gelöscht zu werden. In diesem Fall hätte die nassforsche Tonlage dazu beigetragen, das Anliegen eines Briefeschreibers gleich ganz zu blamieren.

Letztlich ist in diesen lockeren Zeiten alles so, wie es eben ist: Versuch und Irrtum. Der böseste, distanzierteste Gruß ist übrigens "mit freundlicher Empfehlung" (lies: mit unfreundlicher Abweisung). So schrieben selbst- wie standesbewusste Damen Briefe, die darum baten, künftig nicht mehr belästigt zu werden. "Liebe Grüße" hätten sie so beantwortet.

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