Kommentar: Konjunktur ersetzt Konzept

Der Jubel über die steigende Zahl der Azubis verschleiert die Krise, in der die Berufsbildung eigentlich steckt. Die Berufsbildungspolitik agiert noch immer kleinherzig.

Seit gestern jubeln sie wieder. Die Trendwende bei der Berufsbildung sei geschafft. Endlich sei die Zahl der Ausbildungsplätze und die der Bewerber wieder gleich. Man kennt solche Arien, seitdem es das duale Ausbildungssystem gibt. Bundeskanzler Kohl belog das Land einst mit einer Lehrstellengarantie. Aber auch heute geht der Lehrstellenbetrug weiter. Wer behauptet, die Lehrstellenkrise sei überwunden, der fällt auf die Konjunktur und auf die eigene Propaganda herein. Politik und Wirtschaft müssen endlich zugeben, dass es eine Strukturkrise der Berufsbildung zu beheben gilt.

Niemand bestreitet, dass die Zahl der vermittelten Schulabsolventen 2006 und 2007 angestiegen ist. Erstmals seit langem ist es wieder gelungen, über 600.000 junge Leute in Ausbildungsplätze zu bringen. Nur kann das eben auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ausbildungsbilanz insgesamt negativ bleibt. Die Zahl der Bewerber übersteigt auch nach zwei Aufschwungjahren die Zahl der offenen Lehrstellen. Und selbst der guten Konjunktur ist es nicht gelungen, alle sogenannten Altbewerber unterzubringen. 385.000 von ihnen gibt es, die auch im zweiten Jahr nach ihrem Abschluss ohne Lehrberuf bleiben. Am schlimmsten aber ist, dass die Quote der vermittelten echten Ausbildungsplätze (gemessen am Schülerjahrgang) seit Jahren fällt - während der Anteil derer, die in Warteschleifen und Ersatzmaßnahmen landen, beharrlich steigt. Das bedeutet: Eine Trendwende gibt es nicht.

Man kann nicht sagen, dass Regierung und Tarifpartner nichts tun würden. Zehn schmissige Vorschläge haben sie gemacht, wie die Situation von Bildungsverlierern oder Schulabbrechern verbessert werden kann. Aber man muss sich nur eine einzige Zahl anschauen, um zu erkennen, wie kleinherzig die Berufsbildungspolitik agiert. Um Azubis den Sprung an Hochschulen zu ermöglichen, werden 3.000 Stipendien eingerichtet. 625.000 neue Azubis gibt es - und 3.000 von ihnen sollen studieren können. Das sind 0,48 Prozent. Dieser Wert sagt alles über den Stil der Bildungspolitik: Es fehlen zigtausende Hochqualifizierte - und die Verantwortlichen reagieren mit Maßnahmen auf Promilleniveau.

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