Bürgerkrieg in Syrien: Furcht und Respekt

Die Menschen im umkämpften Aleppo leben in größter Angst und Not. Dennoch versuchen sie, sich mit dem Kriegsalltag zu arrangieren.

Ein Kämpfer der freien Syrischen Armee repariert seine Kleidung mit der Nähmaschine. Bild: Reuters

ALEPPO taz | Aleppo hat gelernt, mit dem Krieg zu leben. In den Häusern fehlt es an allem: Elektrizität, Gas, Telefon, Internet. Täglich gehen die Luftangriffe auf die von der Freien Syrischen Armee kontrollierten Viertel weiter. Dennoch gehen die Menschen spät nachts auf die Straße, die Märkte sind bevölkert, die Bars geöffnet, und der Freitag ist weiterhin Demonstrationstag.

In diesem Umfeld, aus den Trümmern der gemarterten Stadt, ist eine zivile Bewegung erwachsen, die versucht, die Grundversorgung zu gewährleisten: von Schulen bis zu humanitärer Hilfe, von der Polizei bis zur Gerichtsbarkeit. Fast alles ist quasi unter Kontrolle der gemäßigten islamistischen Strömungen, die der Freien Syrischen Armee und ihren Geldgebern nahestehen.

Neuerdings sind sie jedoch mit den radikalen Kräften der Dschabhat al-Nusra konfrontiert, die, seitdem sie militärisch an Einfluss gewonnen haben, zwei islamische Gerichte ins Leben gerufen und den Plünderungen der Freien Armee ein Ende gesetzt haben, um in der Stadt für Ordnung zu sorgen. Noch nicht ausreichend, sagen viele Frauen in Aleppo, die ihr Nein zum Krieg wie ein Mantra vor sich her sagen.

„Dass Gott uns beschütze! Ich bin weder für das Regime noch für die Opposition. Assad bombardiert uns, und die von der Freien Syrischen Armee bestehlen uns. Aleppo war ein Schmuckstück. Jetzt haben wir keinen Strom, kein Gas, kein Wasser, kein Telefon. Gar nichts. Ich habe fünf Kinder, mein Mann ist durch eine Bombenexplosion ums Leben gekommen, und ich muss um Brot betteln. Wie konnte es so weit kommen? Wer hat in den Herzen unserer Kinder solchen Hass gesät?“

Als Zeinab ihre Rede beendet hat, nicken die anderen zustimmend mit dem Kopf. An die 200 Frauen dürften sich hier versammelt haben. Viele halten Kinder im Arm. Seit drei Stunden warten sie vor dem Sitz des Komitees zur Verteilung von Hilfsgütern (Hayat Amr bil Ma’ruf) in Masakin, einem Stadtteil von Aleppo. Ein Mann mittleren Alters taucht hinter einem Gitter auf. Gepflegter, graumelierter Bart. Er spricht mit ein paar Frauen, sein Tonfall ist beruhigend.

Dann gibt er den Jungen den Befehl, mit der Vergabe zu beginnen. In den schwarzen Tüten befinden sich Öl, Zucker, Reis, Salz und Mehl. Yusef Abud guckt zufrieden, er ist einer der neuen Männer von Dschabhat Tahrir Suriya al-Islamiya, der islamischen Front für die Befreiung Syriens, dem neuen Koalitionspartner der Freien Armee. Und der wichtigste Partner, was die Zahl der Kämpfer und ihr politisches Gewicht angeht.

Türkische Hilfslieferung

„Es gibt uns noch nicht lange“, erklärt Abud, „und trotzdem haben wir schon 125 Kampfeinheiten.“ Darunter seien einige der wichtigsten, und er zählt auf: Liwa al-Tahwid, Liwa al-Fateh, Kataib al-Faruq, Liwa al-Nasr. „Unser Zusammenschluss ist der erste Schritt für ein neues Syrien. Wir sind gemäßigte Islamisten, wir wollen einen gemäßigten islamischen Staat, der die Rechte aller Minderheiten achtet, auch der Alawiten. Wir würden gerne mit den radikaleren Brüdern von Dschabhat al-Nusra und Ahrar al-Sham verhandeln.“

Die Gelder für diese neue Bewegung stammen entweder von syrischen Geschäftsleuten, die den Muslimbrüdern nahestehen, oder von den Regierungen in Katar und der Türkei. Die Lebensmittel, die Abud an die Frauen verteilen lässt, kommen wiederum von einer türkisch-islamischen Wohltätigkeitsorganisation.

„Wir operieren an drei Fronten“, erklärt er. Die erste sei der Dschihad, der Kampf gegen die Kräfte des Regimes. Die zweite beträfe die Sicherheit der befreiten Zonen: „Wir haben eine islamische revolutionäre Polizei und islamische Tribunale ins Leben gerufen.“

Die dritte Front

Die dritte Front beträfe die humanitäre Lage. „Die Bevölkerung lebt in größter Armut. Wir helfen Tausenden von Evakuierten, die durch die Bombardements ihre Wohnungen verloren haben. Wir sind dabei, die Plätze von den Müllbergen zu säubern. Demnächst wollen wir die elektrischen Leitungen reparieren, die Schulen sollen wieder öffnen und die Krankenhäuser mit Medikamenten ausgestattet werden.“

Es stimmt, der Krieg hat in Aleppo weder Schulen noch Krankenhäuser verschont. Das größte Krankenhaus in Dar al-Shifa, dem Viertel der Aufständischen, ist beim letzten der unzähligen Luftangriffe bis auf die Grundmauern zerstört worden. Etwa zehn Schulen haben wieder geöffnet, aber arbeiten halb im Untergrund. Die Schule in Maschad etwa ist keine richtige Schule, sondern eine einfache Wohnung im zweiten Stock eines Wohnhauses. Die einzelnen Räume dienen als Klassenzimmer für je rund 30 Kinder.

„Wir können die alten Schulen nicht benutzen“, erklärt Abu Nur, einer der Organisatoren. „Einige Schulen dienen der Freien Armee als Stützpunkte, und dies setzt sie der Gefahr aus, bombardiert zu werden. Wenn hier Bomben fallen würden, gäbe es ein Massaker unter den Kindern. Deswegen nutzen wir Wohnungen. Die Lehrer sind alles Freiwillige. Wir haben kein Geld.“

Man kann jeden anzeigen

Es gibt nicht einmal Geld von der Nationalen Syrischen Koalition unter Moas al-Khatib, die vor Kurzem eine Million Dollar für den neu geschaffenen Lokalrat von Aleppo bereitgestellt hat, eine Art Zivilregierung, die den Kommandokräften der Freien Armee dabei helfen sollte, die Stadt und die Provinz zu regieren. Doch bislang ist von diesen Geldern nichts zu sehen. Die Realität vor Ort sieht so aus: Die einzigen konkreten Hilfsangebote für die Bevölkerung kommen von den islamistischen Bewegungen. Außer bei den Schulen und der Hilfsgüterverteilung machen sie auch bei den Tribunalen ihren Einfluss geltend.

General Mohammed Khalil erklärt, wie die Tribunale funktionieren. Der ranghohe Offizier des Assad-Regimes desertierte im Juli 2012 und steht heute dem kurdisch-militärischen Flügel der Freien Armee vor. „Dem Gericht gehört ein Mann der Religion und ein Mann der Rechtsprechung an. Der Verteidiger ist ein Scheich, aber auch der vorsitzende Richter. Das angewendete Recht ist die Scharia. Die islamische Rechtsprechung sieht für jede Straftat eine Strafe vor.“

Praktisch kann jeder jemanden anzeigen, und nach einem Verfahren verurteilt das Gericht den Schuldigen zu einer Haftstrafe oder einem Bußgeld. „Die Todesstrafe ist nur bei Mord vorgesehen“, führt Khalil aus, „zum Beispiel für die Schabiha-Milizen des Regimes. Die anderen kommen in den Kerker. In der Haft müssen sie den Koran lesen, und die besten Schüler bekommen einen Teil der Strafe erlassen.“

Die besten Kämpfer

Der General bestätigt, dass sich die Tribunale in Händen der radikalen Islamisten der Dschabhat al-Nusra befinden. Eine islamistische und internationale militärische Gruppierung, die sich letzten Sommer in Syrien gegründet hat und – nach Angaben der US-Regierung – al-Qaida nahesteht. General Khalil ist der Ansicht, al-Nusra zähle nicht mehr als 4.000 Kämpfer in ganz Syrien. Davon seien 15 Prozent Ausländer, junge Gläubige, die nach Syrien gekommen seien, um mit Waffen die unterdrückte sunnitische Gemeinschaft zu verteidigen.

Die Gefühle der Syrer gegenüber Dschabhat al-Nusra seien eine Mischung aus Angst und Respekt, sagt er. Furcht, weil der radikale Islam und die Idee eines islamischen Kalifats dem allgemeinen Empfinden der Syrer fremd sei. Respekt, weil aufgrund ihrer Frömmigkeit die Männer der Nusra sich oft nicht nur als die besten Kämpfer erweisen würden, sondern auch den ehrlichsten Umgang mit den Menschen in der Stadt pflegten.

Außer den Tribunalen kontrollieren die Männer der Nusra auch den Nachschub für die Bäckereien und die Tankstellen. Und das, nachdem die freie Armee monatelang den Preis für Mehl und Benzin in die Höhe getrieben hatte, um abzukassieren. In die durch den Krieg entstandenen Leerräume, in die Reihen der Freien Armee haben sich echte kriminelle Banden eingeschlichen.

Vergewaltigungen, Raub, Entführungen

Auch wenn es sich nur eine kleine Gruppe handelte, haben sie viel von sich reden gemacht – durch Vergewaltigungen, Entführungen, Raub und Plünderungen, die Aleppo und Umgebung in Angst und Schrecken versetzten. Sei es, weil sie sich persönlich bereichern wollten; sei es, um an Bargeld zu kommen, womit sie neue Waffen kaufen konnten, um an der Front mehr politischen Einfluss zu erlangen.

Trotz der Macht und der Zustimmung, die al-Nusra in Aleppo in wenigen Monaten erlangt hat, ist sich General Khalil sicher, dass Syrien einen anderen Weg nehmen wird. Nicht nur, weil die Radikalen von al-Nusra eine kleine Minderheit in der Freien Armee darstellten.

„Die syrische Gesellschaft ist vielfältig. Wir bestehen zu vierzig Prozent aus Minderheiten. Wir können keinen islamischen Staat bilden. Wohin dann mit den Christen, den Schiiten, den Alawiten, den Ismaeliten, den Armeniern? Die einzige Lösung ist ein demokratischer Staat. Darüber muss das Volk entscheiden. Syrien muss ein Beispiel für das Zusammenleben der Religionen in der ganzen Welt bleiben. Das ist unsere Geschichte. Unsere Kultur. Und darauf sind wir stolz.“

Aus dem Italienischen von Sabine Seifert

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