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Kolumne Nullen und EinsenEine Minute offline

Michael Brake ist onlinesüchtig. Kein Extremfall, gerade so abhängig wie jeder von uns. Doch Michael Brake wagt einen nie dagewesenen Selbstversuch.

Willkommen in der Matrix Screenshot: AndreasF. / photocase.de

A m Anfang ist es aufregend, ein Projekt! Ich richte ein automatisches Mailreply ein („Bin zwischen 16:26 Uhr und 16:27 Uhr nicht zu erreichen, werde Ihre Mails danach gerne beantworten“), deaktiviere mein OK-Cupid-Profil und sage meinen 269 Facebook-Freunden Bescheid. Soll sich ja niemand auf den Schlips getreten fühlen.

Als der vereinbarte Zeitpunkt näher rückt, macht sich leichte Panik breit. Habe ich auch nichts vergessen? Ist Donnerstag wirklich der richtige Tag für ein derart lebensveränderndes Projekt? Doch es ist nicht mehr aufzuhalten. „Wenn Sie keine Auswahl treffen, wird der Computer in 34 Sekunden automatisch ausgeschaltet.“ So muss es sein, wenn man mit einem Fallschirm abspringt. 4 … 3… 2 … 1 …

Ich bin im Tunnel. Der Monitor ist schwarz. Die Sonne – die Sonne! – scheint, ich kann mich im Spiegeldisplay des Macbooks schemenhaft selbst erkennen. Das bin also ich, 33. Alt sehe ich aus. Ich stehe auf, schaue zu Boden. Ein achtlos dahingeworfenes Papier liegt dort. Ich bücke mich.

In den folgenden 25 Sekunden räume ich die gesamte Wohnung auf, ich schleife die Dielen ab, ich streiche die Zimmer, lese alles von Marcel Proust und die Buddenbrooks, die ich danach auf Suaheli übersetze, weil ich das gerade gelernt habe. Ich rufe alle meine Tanten an, streiche die Zimmer nochmal anders, mache die Steuererklärungen der kommenden zehn Jahre, zeuge ein Kind und sehe ihm dabei zu, wie es erwachsen wird. Man ist ja so PRODUKTIV, wenn man nicht STÄNDIG auf diesen Bildschirm STARRT.

Zufrieden schaue ich mich um. Es ist still. Ich höre ein Lachen vom Innenhof. Was, wenn Ursula von der Leyen gerade etwas Peinliches gesagt hat? Und ich kann keinen der naheliegendsten 200 Witze darüber twittern? Mir wird bewusst, was ich in diesem Moment alles verpasse. Pro Minute werden 342.000 Tweets geschrieben und 120 Stunden Videomaterial auf Youtube hochgeladen. Wann soll ich mir das alles nachträglich anschauen? Ich schaffe ja gerade mal die 2 neuen MySpace-Inhalte.

Was, wenn ich ein komplettes Meme-Referenzsystem verpasse und nicht mehr verstehe, was meine Friends in 24 Sekunden posten? Moment, Ihnen sind meine Sorgen nicht existenziell genug? Was, wenn Merkel zurückgetreten ist? Was, wenn eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden wurde, und sie evakuieren gerade Neukölln, weil in 13 Sekunden die Bombe hochgeht, und ich kriege nix davon mit? Ich könnte das Radio in der Küche anmachen, aber wo ist denn noch mal die Küche? Wie find ich die denn jetzt??? MAN HAT JA DURCH GOOGLE MAPS TOTAL SEINEN ORIENTIERUNGSSINN VERLOREN HEUTZUTAGE!

Erschöpft sinke ich zu Boden und bleibe auf den Dielen liegen. Die Dielen. Das Holz. Meine Augen erobern die fraktal anmutende Schönheit der Astlöcher. Ich atme ein, meine Lunge füllt sich mit dem Duft von Brandenburger Kiefern, meine Füße spüren den märkischen Sand, in dem die Kiefern einst gewachsen sind.

Meine Katze legt sich zu mir, ich streichele ihren Rücken mit allen fünf Fingern der rechten Hand, über 3.000 Berührungs- und Druckrezeptoren werden durch die seidene Struktur ihres Fells aktiviert, ich nehme sie alle gleichzeitig wahr. Kontemplation. Eine Sekunde dauert so lang wie ein Leben dauert so lang wie die Ewigkeit.

Ich bin jetzt ganz bei mir.

Geschafft! Ich könnte jetzt natürlich auch noch eine weitere Minute offline bleiben, aber wem muss ich jetzt noch etwas beweisen? Ich fahre den Computer wieder hoch und … keine neue E-Mail? WTF???

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Michael Brake
wochentaz
Jahrgang 1980, lebt in Berlin und ist Redakteur der Wochentaz und dort vor allem für die Genussseite zuständig. Schreibt Kolumnen, Rezensionen und Alltagsbeobachtungen im Feld zwischen Popkultur, Trends, Internet, Berlin, Sport, Essen und Tieren.
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11 Kommentare

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  • das echte Leben ist immer OFFLINE!!!

    go out to find out!

  • was'n feiner Artikel

  • ein wirklich interessantes Experiment. Aber das mache ich jeden Tag, und zwar auch für mehrere Stunden

  • Schön überzeichnet (oder realistisch?) dargestellt, wie die Sucht nach Aufmerksamkeit im Netz sowie der Angst, etwas vermeintlich Wichtiges zu verpassen, einen beherrschen kann. Aber am Ende scheint er ja die neu gewonnene Zeit auch irgendwie zu genießen.

    • Michael Brake , Autor des Artikels, wochentaz
      @vøid:

      Oh, klar habe ich das genossen. Das mit der Offline-Minute mach ich 2015 ganz sicher wieder!

      • @Michael Brake:

        Ich empfehle, diese Minute öfter einzulegen (z.B. Wöchentlich) und das mal länger als nur eine Minute zu machen ;-)

         

        Und ja, die Erwähnung des Rechnermodells halte ich auch für eher unnötig...

      • @Michael Brake:

        Ja, nicht schlecht. Bleibt bei mir die Frage haengen, warum da steht, welches Computermodell Herr Brake besitzt. Das ist sowas von unwichtig und daher letztendlich "Produktplatzierung". Warum also?

        • @mir:

          Weil Proust, Buddenbrooks, Katze, Google, MySpace, Suaheli, Dielen, brandenburger Kiefern, märkischer Sand, twittern, Facebook und OC-Cupid auch Werbung sind. Bzw. einfach nur Namen.

          Ausserdem ist Apple die beste Wahl. Funktioniert immer...

          • @Andreas Vonrath:

            Wenn ich so einen Blech der Apple-Jünger immer lese, glauben die das wirklich selber?

            Apple - funktioniert immer ... eins der wenigen Unternehmen weltweit, die die geplante Obsoleszenz "offen" lebt und entsprechende "Gewährleistungszeiträume" ungeachtet der lokalen Gesetze bestimmt ...

            [...]gleichzeitig Taz lesender Weltverbesser und Allesbesserwisser[...]

            ... und sich bei Facebook,Twitter,Instagram und wie sie alle heißen über die "Aufmerksamkeitssucht im Netz" monieren ...

            *abwinkt*

            Werde ich immer seltsamer oder ist es die (auch wenn sie es nicht so wahr nimmt) blind konsumierende Umwelt?!

            Habe fertig ... Danke!

            • Michael Brake , Autor des Artikels, wochentaz
              @KrueMon:

              (und alle anderen): Besser als Andreas Vonrath hätte ich nicht erklären können, warum da "Macbook" und nicht "Laptop" steht, danke dafür. Ich habe nunmal eins (das allerdings keineswegs immer gut funktioniert) und sage nicht Werkzeug, wenn ich auch Hammer sagen kann. Damit es Product Placement oder Schleichwerbung ist, müsste ich allerdings noch Geld von Apple kriegen. Das ist aber leider nicht der Fall, irgendwie läuft das umgekehrt bei uns.

              • @Michael Brake:

                Naja, das Produkt ist plaziert, ob Sie Geld erhalten oder nicht. Dadurch ist das Produkt einfach einmal mehr praesentiert worden und in mein Gedaechtnis gebracht. Das ist ja auch die Idee von normaler (bezahlter) Werbung: ich muss das Produkt gar nicht immer kaufen. Reicht schon, wenn auch ich es kenne.

                 

                Das Beispiel mit dem Hammer ist schlecht. Wenn Sie einen Hammer benutzen, sagen sie Hammer und nicht OBI-Hammer, obwohl sie numal einen haben.

                 

                Die Beispile von A. Vonrath sind auch schlecht, u.a. weil Dielen und Katzen eben keine Markennamen sind und googeln tatsaechlich sowas wie ein Deonym geworden ist.

                 

                Hätten Sie irgendeinen anderen Laptop, stünde da bestimmt "Laptop". Ich glaube ganz ehrlich, Sie machen sich da (unwillentlich) zum Werkzeug einer Firma. Aber man mag mich da kleinlich finden.