Heute wird der hundertste Geburtstag des einstigen Reichs- und Bundestrainers Sepp Herberger begangen – von einer Gesellschaft, die vom Kanzler bis zum „Spiegel“ reicht. Der „German Classic“ schlechthin wird gefeiert Von Peter Unfried

Das Herberger-Mosaik

Wenn Goetz Eilers in seinem Büro in der Frankfurter Fleck- Schneise vom Schreibtisch aufblickt, kann er in das Gesicht Josef Herbergers sehen. Der Justitiar des Deutschen Fußball-Bundes hat eine Herberger-Büste im Raum. Nicht zufällig: Eilers ist auch Geschäftsführer der Sepp- Herberger-Stiftung. Als solchen beschlich ihn im vergangenen Jahr im Wissen um den nahenden hundertsten Geburtstag des Stiftungsvaters häufiger der Gedanke: „Was macht man?“

Der DFB hatte sich in den Jahren nach Herbergers Tod nicht eben hervorgetan, seinem wichtigsten Vorarbeiter die Unsterblichkeit zu bewahren. Mag sein, daß auch Sorge mitschwang, mit dem Bundestrainer könnte der DFB- Reichstrainer Herberger aus der Gruft aufsteigen, der soziale Aufsteiger und Karrierist der 30er Jahre, als NSDAP-Mitglied seit Mai 1933 der Prototyp dessen, was man heute vorsichtig-beschwichtigend eine „ambivalente Persönlichkeit“ nennt.

Nun trifft man sich heute nachmittag lange vor seinem hundertsten Geburtstag (28. März) in der Geburtsstadt Mannheim, um ihn zu feiern. Es handelt sich nicht bloß um ein popeliges Kickerbankett, auch wenn Franz Lambert orgelt. Der Postminister Boetsch kommt samt Herberger-Briefmarke. Nicht zu vergessen der Festredner: Helmut Kohl, Bundeskanzler.

Kohl, so hört man, brauchte der DFB nicht lange bitten. Der weiß, wann das Kommen lohnt. Schließlich geht es darum, im Erhard-Jahr den Trainer der westdeutschen Weltmeister-Fußballer von 1954 als den German Classic der 50er schlechthin in Stellung zu bringen. Und wenn es lohnt, stört ihn auch nicht, daß die Veranstaltung eigentlich zur Hälfte eine Buchpräsentation des Verlages Rowohlt Berlin ist und schlimmer: der Autor ist der Spiegel-Reporter Jürgen Leinemann (60).

Warum der politische Journalist die Biographie eines Fußballtrainers verfaßt hat? „Weil da so viele Fragen offenblieben“, sagt Leinemann. Daß er es getan hat, zeigt, daß Josef Herberger umfassender verstanden werden muß denn als knitzer Volksweiser, für den der Ball das nächste 90minütige Spiel war. Es ging, sagt Leinemann, darum, die „Lebensgeschichte dieses Mannes, der mir immer typisch erschien, einzubetten in die deutsche Zeitgeschichte“. Das ist ihm gelungen.

Doch die dunkle Geschichte des DFB wird auch bei ihm nicht gänzlich hell. Zwar hat der Kurator Eilers den Mitbewerbern Lothar Mikos/Harry Nutt den Einblick in die 361 Herberger-Ordner verweigert, doch exklusive Quellen waren der einzige Deal zwischen Verband und Rowohlt. „Es gibt keine Steuerung des Herberger-Bildes“, sagt Eilers.

Tatsächlich war Schreiber Leinemann bei seinen Berichten von Fußball-WMs nicht eben auffällig geworden als freundlicher DFB- Abnicker. Wenn er nicht wie die eine Generation jüngeren Mikos/ Nutt unfreundlich zuspitzt, dann mag es auch an einer gewissen Altersmilde liegen. „Als ich abgerechnet habe, war ich 30“, sagt Leinemann. Heute will er „verstehen“.

Der DFB, der es bis heute vermieden hat, seine Kooperation mit Hitler aufzuarbeiten, kann mit dem Ergebnis leben: Der Mann, der das begründet hat, was der Verband heute ist, wird präsentiert als „vielschichtige Gestalt“ (Eilers), doch nicht als Nazi. Tatsächlich war Herberger geprägt vom Kaiserreich und seiner ärmlichen Jugend im Mannheimer Arbeiterviertel Waldhof, wo er mit der Mutter nach dem frühen Tod des Vaters am Rande der Gesellschaft aufwuchs. Die Erfahrung dürfte ihn zu jenem mißtrauischen, teils verbitterten, immer kalkulierenden Mann gemacht haben, der er war.

Es gibt einiges zu klären. Die Antwort auf die Frage: Wer war Herberger?, wurde in der Vergangenheit meist in den Anekdoten seines arglosen Mediums, des Spielführers Fritz Walter („Ja, Chef“) und jener Handvoll williger Journalisten verschleiert. Walter durfte einst gar den ersten biographischen Wagen vorfahren („Der Chef“), Weggefährte Ludwig Maibohm ließ 1973 auf Herbergers Geheiß alles weg, was dem nicht in den Kram paßte.

„Herberger war ja so berechnend“, sagt Karl-Heinz Schwarz- Pich. Der Privatforscher, der selbst aus dem Waldhof kommt, hat für seine Suche nach dem wahren Herberger eine fünfjährige Recherche betrieben. „Der wußte, daß er eine Legende ist. Über den Tod hinaus hat er gedacht: Wer wird wohl meine Akten lesen?“

Herberger war ein besessener Zettelschreiber und Sammler. Auch die vollgeschriebenen Seiten seines, des berühmtesten Notizbuches der Bundesrepublik, heftete er ab. Das definitive Buch über sich/den Fußball wollte er schreiben. Doch als er nach seinem Rücktritt 1964 im Trainingsanzug am Schreibtisch saß, kritzelte er zwar unbeirrt weiter (Halblinks: Netzer – oder? ... nein, Overath.“), doch all die kleinen Steinchen, die er gesammelt hatte, ließen sich nie zum großen Mosaik zusammenfügen.

Schwarz-Pich, der die Ordner eingesehen hat, nimmt an, daß Herberger über das Kitten der Bruchstellen seiner Vita grübelte, keine Lösung fand und schließlich vor dem dritten, tödlichen Herzinfarkt 1977 die Ordner säuberte. „Immer, wenn's spannend wird“, sagt Schwarz-Pich, „kommt nichts mehr“: Als Herbergers Vater starb, als der junge Nationalspieler vom DFB als „Berufsspieler“ schändlich gesperrt wurde, wie er Otto Nerz, seinen Vorgänger als Reichstrainer, ablöste. Daß einer wie er, der alles und alle auskundschaftete, fixierte, berechnete, sich von den Vorgesetzten Nerz und DFB-Präsident Linnemann zum Eintritt in die NSDAP „überreden“ ließ, wie es Herberger nahelegt, zum anderen die angebliche Motivation („Wie man zuweilen Mitglied in einem Verein wird“), erscheint tatsächlich unwahrscheinlich.

Am Ende siegte das Gute, das Herberger in diesen Jahren auch getan hatte – der supersmarte Anpasser wurde als Mitläufer freigesprochen; er durfte Bundestrainer werden. Im Grunde hat wohl auch in diesem Fall Franz Beckenbauer recht, der auf die Frage, wer Herberger war, sagte: „Herberger war Fußball.“ Herberger interessierte im Grunde nur Fußball. Alles, was er tat, tat er für den Erfolg seiner jeweiligen Mannschaft und natürlich seinen. Und Fußball war bis Anfang der 60er Jahre in der Bundesrepublik Herberger, insbesondere nachdem der in Bern 1954 das geschlagene Land mit dem 3:2 über Ungarn zum Weltmeister aller Klassen gecoacht hatte. Damit war Herberger aber auch viel mehr als Fußball – plötzlich stand der vorgebliche Unpolitische zur Rechten Adenauers.

Herberger kontrollierte in seiner kleinen Welt alles: Dem Medium Fernsehen verhalf er mit der WM 1954 zum Durchbruch – und sich selbst inszenierte er als ersten Fernsehstar. Seine Botschaft glich der des gleichaltrigen Ludwig Erhard: Ball flachhalten = Maß halten!

Der Selfmademillionär Herberger wollte aber nicht hauptsächlich volkstümlich/bescheiden sein, er wollte bescheiden geblieben rezipiert werden. Und „bei aller Bescheidenheit“ (Herberger): als Erfolgsmensch. Seine Auftritte waren stets auf ihre Wirkung kalkuliert. Seine volksphilosophischen Axiome („Der Ball ist rund“) kamen gut an und gestatteten keinen Widerspruch. Dennoch konnte er dahinter unkenntlich bleiben.

Während das Land nun wieder anfängt, über Herberger zu sinnieren, ist Regionalforscher Schwarz- Pich längst eine Runde weiter. Er recherchiert an der Frage: Wer war Otto Nerz?

Der zeitweilige Mannheimer Freund, Konkurrent und Vorgänger Herbergers ist in seiner Verstrickung zum Nationalsozialismus wohl die ungleich brisantere Figur. Nerz allerdings schaffte einen vierten nahtlosen Übergang der Staatsformen nicht mehr – er starb 1949 im Internierungslager und ward vergessen.

DFB-Justitiar Goetz Eilers ist nachdenklich geworden, als er Schwarz-Pich in den Ordnern des „Chefs“ wühlen sah: „Wenn das der Herberger wüßte, was Sie da tun...“ Er hätte Grund zur Sorge: „Alle Sprüche Herbergers“, sagt der Forscher, „sind eigentlich von Otto Nerz.“