: Der Mord, der die Stadt wachrüttelte
Hatun Sürücü war die fünfte Frau, die innerhalb weniger Monate in Berlin umgebracht wurde – immer von Mitgliedern ihrer kurdischstämmigen Familien. Doch es war dieser Mord, der endlich Protest und Solidarität mit den Frauen weckte. Warum?
VON WALTRAUD SCHWAB
Der Mord an Hatun Sürücü setzt ein Fanal – ein Feuer-, ein Flammenzeichen: Eine junge kurdischstämmige Berlinerin wird aus nächster Nähe erschossen. Noch bevor bekannt ist, dass der Bruder der Mörder war, wird die Tat in eine Reihe gestellt mit früheren Morden an Frauen, die auf einen kurdisch-muslimisch-patriarchalen Hintergrund bezogen sind. Innerhalb weniger Monate waren in Berlin vier Frauen von Familienmitgliedern umgebracht worden, weil sie sich von ihren Männern trennten, das Kopftuch abnahmen, nicht länger bereit waren, gewalttätige Männer zu ertragen.
Während bei den vorangegangen Morden vor allem Frauenrechtlerinnen vergeblich Protest und politisches Handeln forderten, gab es nach dem Mord an Hatun Sürücü einen medialen und gesellschaftlichen Aufschrei. Dabei war dieser Mord nicht anders; er war in seiner brutalen Logik nur deutlicher: Ein Bruder erschießt kaltschnäuzig seine Schwester auf offener Straße. Der Vorwurf des Staatsanwalts, dass auch die älteren Brüder am Mord beteiligt waren, musste nur mangels Beweisen fallengelassen werden.
Die Tat markierte eine Grenze: Wenn jetzt nicht Bewegung in die gesellschaftliche und politische Diskussion kommt, machen sich alle mitschuldig. Es kann nicht sein, dass in Deutschland Frauen umgebracht werden, weil sie selbstbestimmt leben wollen. Es kann nicht sein, dass niemand etwas dagegen tut. Der Mord an Hatun Sürücü war nicht mehr bequem zu erklären. Weder der Stempel „Affekthandlung“ noch der der „Beziehungstat“ konnte verwendet werden. Hier ging es um eine Tat, die das Primat des Mannes über das Lebensrecht der Frau setzte. Mit dem Gleichheitsgedanken im Grundgesetz ist dies niemals vereinbar.
Homosexuellenorganisationen in Berlin reagierten als erste. Als sich bestätigte, dass es sich um einen „Ehrenmord“ handelte, initiierten sie eine Gedenkveranstaltung an der Bushaltestelle, wo Sürücü erschossen wurde: „Als Homosexuelle kämpfen wir dafür, dass eigene Lebensentwürfe akzeptiert werden.“ Ungefähr 150 Menschen kamen. Türkische Verbände, die sich angeblich beteiligen wollten, waren nicht da. An einer Demonstration Anfang März, zu der neben Frauenorganisationen auch Ver.di, Grüne und PDS aufriefen, nahmen etwa 1.000 Menschen teil.
Dass der Entrüstung damit Genüge getan sei, verhinderten Jugendliche türkischer Herkunft an einer Neuköllner Schule. Sie erklärten, dass Hatun Sürücü es verdient hätte, umgebracht zu werden. Der Schulleiter machte dies öffentlich. Die anschließenden Diskussionen zeigten, wie hartnäckig sich frauenfeindliches Denken in manchen Migrantenkreisen hält.
Endlich fühlten sich türkische und kurdische Verbände, aber auch Islamorganisationen veranlasst, sich öffentlich gegen Ehrenmord und Gewalt gegen Frauen auszusprechen. Kurdischstämmige Politiker wie Riza Baran (Grüne) und Giyasettin Sayan (PDS) suchten gezielt das Gespräch mit Familien kurdischer Herkunft, von denen sie wussten, dass diese an traditionellem Denken festhalten. Viel mehr Männer müssen ihrem Beispiel folgen, wenngleich es schwierig ist, Erfolge zu erzielen. Dies zeigt der Umstand, dass eine der ermordeten kurdischen Frauen weitläufig mit Giyasettin Sayan verwandt war.
Durch den Ehrenmord an Sürücü und das ungeschminkte Bekenntnis der Neuköllner Jugendlichen zu dieser Art tradierter patriarchaler Gewalt kamen weitere verschwiegene Themen an die Öffentlichkeit. Die Frauenrechtlerinnen Necla Kelek und Seyran Ateș skandalisierten die Doppelmoral vieler Mitglieder der aus der Türkei stammenden Migrantengemeinde, die mitunter großes Leid über die in Deutschland aufgewachsenen Frauen bringt. Denn diese zeigen oft große Bereitschaft, sich kulturell zu öffnen, da sie umgekehrt die stärkste symbolische Last der alten Werte zu tragen haben. Auf der eine Seite wird dies am System der importierten Bräute und der Zwangsehen deutlich. Auf der anderen an der Abwertung von Mädchen und jungen Frauen, die, so sie ohne Kopftuch gehen, als Huren beschimpft werden und sexueller Anmache bis hin zu Übergriffen ausgesetzt sind. Die gesellschaftliche und politische Unterstützung für sie ist ungenügend. Ein in den Bundestag eingebrachter Gesetzentwurf, der Zwangsehen verbietet, liegt auf Eis.
Seyran Ateș ist eine vehemente Streiterin für diese Frauen. Die Rechtsanwältin erhielt deshalb von Angehörigen ihrer nichtdeutschen Mandantinnen immer wieder Morddrohungen. Unter Polizeischutz wurde Ateș jedoch erst gestellt, als sie ihre Anwaltslizenz öffentlich zurückgab. Da erst wurde verstanden, welcher Gefährdung jene ausgesetzt sind, die für die Rechte der Frauen eintreten. Heute wird Ateș für ihr Engagement mit dem Margherita-von-Brentano-Preis der Freien Universität geehrt.
Indirekte Unterstützung erhielt das Anliegen der Migrantinnen, die aus tradierten Rollen ausbrechen, in den letzten beiden Jahren unerwartet von Emel Algan. Die Tochter des Gründers der deutschen Sektion von Milli Görüș, eine streng muslimische Organisation, der vorgeworfen wird, Religion mit Machtanspruch zu verbinden, nahm in dieser Zeit das Kopftuch ab. Wie der Aufschrei nach dem Mord an Hatun Sürücü zeigt auch dies, dass die tradierte patriarchale, mitunter mit Religion begründete Macht des Mannes über die Frau zunehmend als falsch erkannt wird. „Frauen, die eigenständig leben wollen, müssen in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt und nicht dafür umgebracht werden“, fordert Algan.
Die Verhandlung gegen die Brüder Hatun Sürücüs brachten die deutsche Gesellschaft in Form ihrer Gerichtsbarkeit wieder stärker ins Spiel. Bisher wurde bei vielen Urteilen im Kontext von „Ehrenmord“ die kulturelle Befindlichkeiten strafmildernd einbezogen. Beim zeitgleich zum Sürücü-Prozess laufenden Verfahren gegen einen Mann, der seine Frau auf offener Straße in Reinickendorf erstochen hatte, plädierte der Staatsanwalt nicht auf Mord, sondern auf Totschlag. Nicht so beim Prozess gegen die Sürücü-Brüder. Hier bezeichnete der Richter den Mord als eine Art Hinrichtung, „als Strafe für gelebtes Leben“.
Große Beachtung gilt in diesem Zusammenhang der Hauptbelastungszeugin Melek, die zur Tatzeit mit dem Mörder liiert war, und ihrer Mutter. Der Mörder hatte Melek gegenüber mit der Tat geprahlt. Sie vertraute sich ihrer Mutter an. Die überredete ihre Tochter, gegen den Mörder auszusagen. Dass beide Frauen gegen die Männer die Stimme erhoben, gilt als große Auflehnung gegen das patriarchale System. Sie gelten deshalb als gefährdet und müssen nun, vermutlich für immer, mit neuer Identität im Zeugenschutzprogramm der Polizei leben.
Nach dem Urteil legte Innensenator Ehrhart Körting (SPD) der Familie Sürücü nahe, Deutschland zu verlassen. Ein größeres Eingeständnis des integrationspolitischen Scheiterns lässt sich kaum denken. Denn Körtings Aufforderung muss in Zusammenhang gebracht werden mit einer anderen Information: Nicht die Familie ist nunmehr in der Türkei, aber eine der jüngeren Schwestern Hatun Sürücüs. Und zwar jene, von der man sagt, dass sie – wie ihre große Schwester – auch nicht auf Familienlinie sei.
Wenn dies stimmt, wo ist Körting, wo sind die PolitikerInnen, um solche Mädchen zu schützen? Die durch den Mord an Hatun Sürücü wachgerüttelte Gesellschaft darf nicht wieder einschlafen.
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