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„Nicht alte Schlachten schlagen“

Welche Folgen hat die Diskussion über die Vergangenheit? Wem nützt sie? Heiner Geißler über 68, die CDU und die Fähigkeit zur Differenzierung

Interview BETTINA GAUS

taz: Geht es Ihnen in diesen Tagen manchmal so, dass Sie sich plötzlich 25 Jahre jünger fühlen, weil die Schlachten der Vergangenheit auf einmal neu geschlagen werden?

Heiner Geißler: Jünger fühlen kann man sich da nicht, eher älter. Schließlich führt uns die Diskussion in die Zeit vor 1968 zurück.

Inwiefern?

1968 mussten andere Dinge erörtert werden als heute. Nach den ersten Jahrzehnten der Nachkriegsgeschichte hatten sich Fragen aufgestaut, übrigens auch innerhalb der CDU: Wie sind wir mit der nationalsozialistischen Vergangenheit fertig geworden? Ist nicht ein Reformstau entstanden? Brauchen wir eine neue Ostpolitik? Wie ist die Situation an den Hochschulen? Auf diese Fragen, die durchaus berechtigt waren, gab es unterschiedliche Antworten. Die CDU hatte darauf in der Opposition mit einem personellen Neuanfang und mit einem neuen Grundsatzprogramm reagiert. Andere haben moralisch aufgetrumpft und sich der außerparlamentarischen Oppositon, der APO, angeschlossen.

War das falsch?

Die Geschichtsinterpretation der APO war schon in meinem damaligen Verständnis wirr und gefährlich. Nach 1945 war der Gegensatz zwischen Demokratie und Diktatur der Dreh- und Angelpunkt der Politik. Teile der Studentenbewegung, der APO und ihre geistigen Wegbereiter wie zum Beispiel Herbert Marcuse haben diese grundsätzliche Frage verändert – hin zum Dualismus Sozialismus gegen Faschismus. Daran war auch die SPD beteiligt. Dadurch wurden alle, die gegen den Sozialismus waren, plötzlich per definitionem automatisch zu Faschisten.

Was hat das aus Ihrer Sicht bewirkt?

Aus der Geschichtsinterpretation der APO haben sich im Wesentlichen zwei Richtungen entwickelt. Die Baader-Meinhof-Bande ist in den Terrorismus gegangen. Eine zweite Gruppe mit Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit hat zur Demokratie gefunden, blieb aber noch jahrelang, zum Beispiel in der Friedensbewegung, dieser im Grunde genommen antiwestlichen Struktur verhaftet. Die Grünen haben inzwischen mit Fischer und Cohn-Bendit diese Position verlassen und sehen in Nato und Bundeswehr Institutionen zur Sicherung der Menschenrechte und der Demokratie.

Falls Sie mit dieser Analyse Recht haben: Worin besteht dann das Problem der Diskussion über die Vergangenheit?

Auch die SPD hat diesen langen Weg hinter sich. Schließlich hat der heutige Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping noch vor sechs Jahren als Fraktionsvorsitzender der SPD vor dem Bundesverfassungsgericht dagegen geklagt, dass ein deutscher Zerstörer in der Adria herumfuhr, um das Waffenembargo gegen die Diktatur von Milošević zu überwachen. Durch die alten Schlachten, die jetzt geschlagen werden, wird dieses parteiübergreifende, für Europa und Deutschland identitätsstiftende Verständnis unserer Demokratie wieder gefährdet.

Wie erklären Sie sich denn das plötzliche Interesse an der westdeutschen Protestbewegung vergangener Jahrzehnte?

Ich glaube, dafür gibt es ganz banale Gründe. Manche, vor allem die Liberalen, sehen darin die Möglichkeit, mit Fischer einen Eckpfeiler aus der rot-grünen Koalition herauszubrechen. Die FDP sieht dadurch die Chance für eine sozialliberale Koalition. Die CDU beteiligt sich an diesem Manöver, obwohl sie damit den letzten möglichen Koalitionspartner verlöre.

Welche Folgen der Diskussion sehen Sie hinsichtlich des politischen Klimas insgesamt?

Die Diskussion wird vor allem der CDU schaden. Wir befinden uns im Jahre 2001, und man kann Wahlen nicht mit der Diskussion der Frage gewinnen, warum sich einer vor dreißig Jahren mit einem Polizisten geprügelt hat. Die ganze Diskussion findet nur für hoch politisierte Randzirkel der Gesellschaft statt, und sie wird letztlich nur dazu führen, dass auf allen Seiten aus 150-prozentigen Anhängern der jeweiligen Richtung 200-prozentige werden. Den meisten Leuten geht es heute zu Recht um ganz andere Fragen, nämlich um die Fragen der Zukunft: um die Globalisierung, um die Grenzen der Technik, um das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt. Solange keine neuen, beweisbaren Informationen hinzukommen, so lange interessiert die Vergangenheit nur wenige. Es wäre anders, wenn sich herausstellen sollte, dass Fischer lügt. Aber bis zum Beweis des Gegenteils muss ich ihm glauben. Wir können nicht die Beweislast umkehren und gegen den deutschen Außenminister mit Unterstellungen arbeiten.

Wolfgang Thierse hat kürzlich gesagt, auch ein reuiger rechter Gewalttäter müsse in 20 Jahren Minister werden können. Dafür ist er sowohl aus Kreisen der Union wie auch von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde heftig kritisiert worden. Stimmen Sie dem Bundestagspräsidenten zu?

Jede Pauschalierung ist problematisch. Aber ich kann mich erinnern, dass kürzlich ein NPD-Abtrünniger öffentlich als Held gefeiert wurde. Der Mann wurde in den Medien gezeigt und machte einen ganz vernünftigen Eindruck. Würden wir solche Leute ein Leben lang als politisch Aussätzige behandeln, könnten sie nie zur Demokratie zurück.

Sie haben kürzlich jede Parallele zwischen rechten Gewalttätern von heute und der Hausbesetzerbewegung von damals für unzulässig erklärt. Warum?

Nicht jede Parallele: Gewaltanwendung ist so oder so verwerflich. Aber eine der wichtigsten kulturellen Errungenschaften der abendländischen Philosophie ist die Fähigkeit zur Differenzierung. Es gibt eklatante Unterschiede. Die Hausbesetzer in Frankfurt zum Beispiel hatten zwar nicht die Legalität auf ihrer Seite, aber ihr Protest gegen die Grundstücksspekulanten war dennoch legitim. Man muss sie anders beurteilen als Leute, die aus niederen Instinkten heraus andere umbringen, weil sie eine andere Hautfarbe haben.

Es ist nicht Ihre Aufgabe, dem politischen Gegner Ratschläge zu erteilen. Aber wenn Sie sich dennoch einen Augenblick in die Lage eines Ratgebers der Grünen versetzen: Würden Sie der Partei gegenwärtig eher eine defensive Linie empfehlen oder meinen Sie, die Grünen müssten in die Offensive gehen?

Die Grünen müssten sich auf die Themen konzentrieren, die für sie wichtig sind: das Verhältnis von Mensch und Natur, das Verhältnis zur Schöpfung, die Emanzipationsbewegung. All das hat die Partei in den letzten Jahren vernachlässigt. Außerdem müssten sich die Grünen an die Spitze der Menschenrechtsbewegung stellen, ob in Osttimor oder im Kosovo. Despoten müssen notfalls mit Gewalt an ihrem Tun gehindert werden. Die Grünen müssten viel mehr Krach machen und streiten. Vor allem auch mit der SPD.

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