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Beamte zeigen an, Richter leistet Widerstand

■ Freispruch und Geldstrafe im Prozeß gegen Teilnehmer des Sandbeker Trauermarschs

Angesichts der Tradition deutscher Rechtsprechung erwarte er keine Gerechtigkeit, sagte Gürsel Y. Bei der Urteilsverkündung blieb er demonstrativ sitzen und anschließend grinste er irritiert. Der 29jährige wurde vom Vorwurf, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet zu haben, freigesprochen. Sein Mitangeklagter wurde zu einer Geldstrafe verurteilt.

Beide hatten im Mai dieses Jahres an einem Trauermarsch in Sandbek teilgenommen. Eine Woche zuvor waren dort zwei jugendliche Mofafahrer beim Herumfahren um eine Halbschranke von einem Zug erfaßt und getötet worden. Als der Trauermarsch die Kreuzung einer vielbefahrenen Straße blockierte, schritt die Bereit-schaftspolizei ein. Die beiden Angeklagten wurden verhaftet, erklärte ein Einsatzleiter gestern, weil sie als letzte die Kreuzung geräumt und sich im Zugriffsbereich seiner Leute befunden hätten. In der Anzeige gegen die beiden und in den Polizeiberichten war davon die Rede, daß sie Beamte geschlagen und getreten hätten.

Während der zweitägigen Verhandlung – und erst durch Nachfragen von Verteidigung und Richter bei den als Zeugen geladenen Beamten – erwiesen sich diese „Widerstandshandlungen“ als Kolportage der Aussagen anderer Beamter oder als Vermutungen. Weil die Festnahme länger gedauert habe als nötig, erklärte der Einsatzleiter, habe er gefolgert, daß die Jugendlichen Widerstand geleistet hätten. Gesehen hatte er es jedoch nicht.

Der Staatsanwältin, die ansonsten „keine Fragen“ hatte, reichte das, um eine Verurteilung wegen Widerstandes zu fordern. Dem Richter nicht. „Wir erleben hier Zeugen, die bei längerem Nachfragen immer neue Varianten auftischen“, meinte er, als sich die Staatsanwältin wiederholt von der Sorgfalt eines Verteidigers genervt zeigte. Es sei die weit größere Zumutung, daß die Beamten ihre Aussagen erst in einer akribischen Befragung relativierten.

Nicht wegen unbewiesener Schläge und Tritte wurde im Fall des 30jährigen Sükrü D. auf Widerstand erkannt, sondern weil er einen Beamten bei der Festnahme in die Hand gebissen haben soll. In diesem Punkt, so der Richter, sei nicht zu erkennen, warum der Zeuge den Angeklagten zu Unrecht der Körperverletzung beschuldigt haben soll. Als die beiden Mofafahrer getötet wurden, habe sich niemand für die Umstände interessiert, sagte D. in seinem „letzten Wort“. „Stattdessen setzt man uns auf die Anklagebank.“ Ein Ermittlungsverfahren gegen die Polizisten, die von den Angeklagten wegen Körperverletzung im Amt angezeigt worden waren, dauert noch an.

Stefanie Winter

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