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Kontroll-Lücke bringt Rinderwahn

■ Kanzler kritisiert die EU-Kommission, Europaparlament spricht von Fahrlässigkeit, neuer Creutzfeldt-Jakob-Fall

Berlin (AP/taz) – Bundeskanzler Helmut Kohl hat nach Presseberichten erstmals die EU-Kommission für ihre Rolle beim BSE- Skandal kritisiert. Der Kanzler sei „zunehmend verärgert“ über das politische Fehlverhalten der Kommissionsspitze, heißt es im neuesten Focus. Das Europaparlament hatte die Kommission zuvor beschuldigt, beim BSE-Skandal fahrlässig gehandelt zu haben. Diskussionsergebnisse der Veterinärausschüsse seien verschollen. Zudem habe Großbritannien die Brüsseler dazu gedrängt, sich aus der Affäre herauszuhalten. Fleisch und womöglich verseuchte Tiermehle aus Großbritannien, wo jede Woche 380 Rinder an BSE verendeten, seien weiterhin ausgeführt worden.

Fahrlässigkeit gab es allerdings auch in der Bundesrepublik. Bundeslandwirtschaftsminister Jochen Borchert (CDU) sah sich in den vergangenen Tagen mit immer mehr Hinweisen auf Tricks in der deutschen Viehhaltung konfrontiert. So sollen deutsche Züchterverbände Ohrmarken zur Kennzeichnung von Tieren doppelt und dreifach verwendet haben, berichtet das ARD-Magazin Monitor.

Auch der Gesundheitsschutz funktionierte nicht. In Ostfriesland wurde ein Todesfall als Folge der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJD) erst jetzt nach 17 Monaten bekannt. Ein 59 Jahre alter Rinderzüchter starb im September 1995 an der Creutzfeldt-Jakob- Krankheit. Weder der Hausarzt des Mannes noch der Pathologe, der auf Drängen der Familie schließlich eine Obduktion des Toten durchführte, hätten sich an die Meldepflicht gehalten. Es gibt Hinweise darauf, daß Rindfleisch, das von dem BSE-Erreger befallen ist, beim Menschen die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit hervorrufen kann.

Behörden und Rinderzüchter wollen es in Zukunft besser machen. Brandenburgs Landwirtschaftsminister Edwin Zimmermann will die Schlachtung britischer Rinder in seinem Bundesland jetzt notfalls per Gerichtsbeschluß durchsetzen. Der Geschäftsführer des Bundesverbandes Deutscher Fleischrindzüchter, Klaus Meyn, räumte ein, daß die Kontrollen nicht ausreichend gewesen seien. Eine zentrale bundesweite Datenbank aller in Deutschland gehaltenen Rinder fehle nach wie vor. Allerdings habe ein neues im Oktober 1995 eingeführtes Rinderidentifikationssystem schon Fortschritte in der Branche gebracht. Seither muß jedes Kalb bis zum dreißigsten Tag mit einer zwölfstelligen Ohrmarke gekennzeichnet werden, die in Deutschland mit dem Staatszeichen DE beginnt.

Bauernpräsident Constantin Freiherr von Heeremann verlangte, künftig Rinder mit einem Mikrochip im Ohr eindeutig identifizierbar zu machen. Betrüger sollten Schadenersatz in Millionhöhe zahlen müssen, so der Bauernlobbyist.

Der zuständige Prüfer des Fleischrind-Verbandes in Mecklenburg-Vorpommern räumte inzwischen ein, im Fall des an BSE verendeten Rindes „Cindy“ leichtfertig gehandelt zu haben. Bereits am Freitag hatte der Schweriner Landwirtschaftsminister Martin Brick dem Verband die Anerkennung als Zuchtverband entzogen.

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