: „Eine Renaissance der Sozialdemokratie“
■ Günter Verheugen, außenpolitischer Sprecher der SPD, über den Wahlerfolg der französischen Linken und die Chancen der SPD, es ihr – möglichst vor 1998 – gleichzutun
taz: Welche Bedeutung hat in Ihren Augen der Ausgang der Wahlen in Frankreich?
Verheugen: Ich habe keinen Zweifel, daß es eine sozialdemokratische Renaissance in Europa gibt. Die Ausgangslage in Großbritannien, Frankreich und Deutschland ist vergleichbar. In allen drei Ländern haben die konservativen Regierungen notwendige Anpassungsprozesse unter Verletzung des Gebots der sozialen Gerechtigkeit betrieben. In den europäischen Industriestaaten zeigt sich eben, daß der Grundwert soziale Gerechtigkeit nicht ungestraft mit Füßen getreten werden darf.
Was für Folgen hat der Regierungswechsel in Frankreich für den Prozeß der europäischen Einigung und die Einführung des Euro?
Es ist vernünftig, die Wahlausgänge in Großbritannien und Frankreich gemeinsam zu betrachten. Für Europa sind beide Ergebnisse förderlich. Der Wunsch nach europäischen Beschäftigungsinitiativen, verbindlicher europäischer Sozialpolitik und Steuerharmonisierung wird mit sehr viel mehr Nachdruck geäußert werden. Ideologisch gerät die Bonner Koalition in die Isolation. Die französischen Sozialisten sind traditionell europafreundlich und integrationswillig. Sie wollen den Euro mit derselben Entschlossenheit wie wir, aber unter den richtigen Bedingungen, also flankiert von europäischer Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Nach dem Sieg von Tony Blair hat die Union ihre Glückwünsche ausgesprochen, als handele es sich bei dem britischen Premier um einen verkappten CDU-Politiker. Meinen Sie, daß diese Taktik jetzt auch im Falle Frankreichs versucht werden wird?
Im Vergleich zu Labour haben die französischen Sozialisten ja einen eher traditionellen sozialdemokratischen Ansatz. Außerdem zeigen die ersten praktischen Schritte in Großbritannien, daß die Glückwünsche für Blair aus dem CDU-Lager verfrüht waren.
Wird denn die Lage für die Bonner Koalition nach den Wahlen in Frankreich noch schwieriger, als sie es ohnehin schon ist?
Ja, das glaube ich. Das ist vor allem ein psychologischer Faktor.
Wie lange wird's denn diese Koalition in Deutschland noch geben?
Längstens bis zur Bundestagswahl. Meine Vermutung ist, daß, obwohl diese Koalition tatsächlich gescheitert ist, sie ihr Scheitern nicht eingestehen wird, sondern von der ganz irrationalen Hoffnung zusammengehalten wird, man könnte wie 1994 auch 1998 noch einmal einen Stimmungswandel künstlich herbeiführen.
Welcher Wahltermin wäre für die SPD am günstigsten?
Ich glaube, daß unsere Chancen, eine Wahl zu gewinnen, im Augenblick sehr hoch sind, daß sie sich aber noch verbessern werden, wenn das Siechtum dieser Koalition sich fortsetzt. Aus unserer Sicht wären aber dennoch Neuwahlen so schnell wie möglich die beste Lösung.
Muß die SPD nicht unter dem Eindruck der sich zuspitzenden Krise in Bonn ihren Kanzlerkandidaten doch früher benennen?
Wir müssen unseren Fahrplan nicht ändern. Das jetzige Szenario geht von Wahlen Ende September 1998 aus. Da ist es völlig richtig, den Kanzlerkandidaten erst im Frühjahr 98 zu nominieren. Wenn sich das Szenario ändert, muß eben früher entschieden werden.
Haben die Wähler nicht einen Anspruch darauf, den Oppositionskandidaten zu kennen, wenn laut über Neuwahlen spekuliert wird?
Da wir keinen Kandidaten aus dem Hut zaubern werden, sondern klar ist, daß es entweder Oskar Lafontaine oder Gerhard Schröder sein wird und beide bekannt genug sind, um einen Wahlkampf auch aus dem Stand führen zu können, sehe ich hier überhaupt kein Problem.
Was verspricht sich die Opposition eigentlich von dem geplanten Antrag auf Entlassung von Finanzminister Waigel?
In diesem schwerwiegenden Fall der Verletzung aller Prinzipien, die gerade Herr Waigel immer wie bei einer Fronleichnamsprozession die Monstranz vor sich herträgt, reicht ein Protest per Presseerklärung nicht aus.
Glauben Sie denn, daß Sie eine Mehrheit zustande bringen?
Wir können bei dieser Abstimmung nicht verlieren. Haben wir die Mehrheit, um so besser. Haben wir sie nicht, macht sich die gesamte Koalition eine Finanzpolitik zu eigen, die in der deutschen Öffentlichkeit niemand mehr billigt. Interview: Bettina Gaus
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