piwik no script img

„Es ging um uns Ostdeutsche“

Eine aktuelle und spannende Dokumentation über die schwierigen deutsch-deutschen Beziehungen in der sozialliberalen Ära  ■ Von Wolfgang Thierse

Die Deutschlandpolitik der Regierungen Brandt und Schmidt, die von Helmut Kohl ganz ohne Skrupel fortgesetzt wurde, wird im Streit bleiben. Da sei nicht genug für die Rechte der Menschen in der DDR gefochten und zuwenig gegen die systemtypischen Verletzungen von Menschenrechten unternommen worden, sagen manche ehemalige DDR-Bürger, die heute bestrebt sind, das Erbe der DDR-Opposition zu monopolisieren. Andere beklagen einen unangemessen kumpelhaften Umgang demokratischer Politiker mit der SED-Nomenklatura und bestehen darauf: „Mit Diktatoren spricht man nicht.“ Der heftigste Vorwurf: Die Deutschlandpolitik habe zur Stabilisierung der DDR beigetragen.

Das kann man alles diskutieren. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, daß die Ost- und Deutschlandpolitik eine eindeutige Wählerlegitimation in Westdeutschland hatte – kaum jemand bezweifelt, daß sie der Hauptgrund für den Wahlsieg der SPD 1972 und die Opposition dagegen der Hauptgrund für die Niederlage Barzels und der CDU war. Viele in der DDR hatten zum erstenmal das Gefühl, eine Rolle zu spielen: Die westdeutsche Regierung war – getragen von großer Zustimmung – die erste und einzige Instanz mit politischer Macht, denen unser ostdeutsches Schicksal nicht gleichgültig war. Daß da eine Regierung – die Willy Brandts – eine Politik machte für uns Ostdeutsche, die für sich selbst keine Politik machen konnten, das bleibt mir unvergeßlich. Es ging um uns, das haben die meisten bald begriffen. Unseren eigenen Machthabern und ihrem „großen Bruder“ Sowjetunion ging es dagegen bloß um ihre eigene Macht.

Heute wird das alles gerne verdrängt. Das ist nötig für diejenigen, die die Verdienste der SPD und der damaligen FDP herunterspielen wollen. Schließlich muß die politische Legende in den Köpfen bestärkt werden, daß Helmut Kohl die Einheit gemacht habe – zusammen mit ein paar sogenannten Bürgerrechtlern, die zwar heute in der CDU sind, noch 1989 aber die Einheit gar nicht wollten. Und es ist nötig für diejenigen, die mit Skandalisierungen dieser Politik eine schnelle Mark machen wollen. Zeitgenossen müßten vor Empörung aufschreien, wenn der DDR- Spionagechef um des Geldes willen den Verdacht provoziert, Herbert Wehner habe innerlich auf seiten der DDR gestanden. Der Anführer von Verrätern erhebt den Vorwurf des Verrats – ohne jeden Beweis. Nachdem ein Magazin seine Sensation gehabt hat und die Werbung für noch ein Buch des Markus Wolf als gelungen gelten darf, bequemt dieser sich zum Dementi: Nein, Wehner sei kein Spion gewesen. So kommen Täter von damals heute zu Geld. Verdient hätte dieses Geld Heinrich Potthoff für eine seriöse und gleichwohl spannend zu lesende Arbeit über die deutsch-deutschen Beziehungen von 1969 bis 1982. Pech, daß der stellvertretende Vorsitzende der Historischen Kommission der SPD seriös ist. Das zählt weniger als PR.

Potthoffs Buch dokumentiert die politischen, die vertraulichen Kontakte zwischen BRD und DDR in der sozialliberalen Ära und der Herrschaftszeit Erich Honeckers. Die 69 Dokumente bestehen vor allem aus DDR-Akten sowie Papieren aus dem Privatarchiv Helmut Schmidts, darunter viele ehemals als geheim eingestufte Berichte. Man liest sie, vor allem die Telefonmitschnitte, mit gelegentlichem Kopfschütteln, mit Gelächter und mit dem befremdlichen Erstaunen darüber, wie verrückt schwierig die Beziehungen waren zwischen der (west-)deutschen Demokratie und der (ost-)deutschen Diktatur. Ein reiches Quellenmaterial als Grundlage für seriöse Geschichtsschreibung, nicht schon diese selbst. Intelligente, sehr differenzierte Ansätze dazu liefert Potthoffs 130seitige Einleitung.

Egon Bahr mißtraute Herbert Wehner, das weiß man aus seinen Memoiren. Er glaubte nicht, daß Wehner sich Brandt, Schmidt, Bahr gegenüber loyal verhielt. Es gibt öffentliche Zeugnisse für diesen Verdacht, wie die Herabsetzung Brandts durch Wehner ausgerechnet von Moskau aus. Horst Ehmke kritisierte die Häftlingsfreikaufspolitik Wehners in der richtigen Einschätzung, die SED werde es fertigbringen, Menschen zu inhaftieren, um sie freikaufen zu lassen. Es gab auch in der DDR Menschen, die mit dem Mut der Verzweiflung ihre Verhaftung provozierten in der Hoffnung auf baldigen Freikauf durch Bonn. Ein in jeder Hinsicht bitteres Kapitel der deutsch-deutschen Beziehungen mit Auswirkungen bis auf den heutigen Tag, ob es Eigentumsfragen sind oder die Verurteilung des Rechtsanwalts Wolfgang Vogel, die mit Rückgabeansprüchen freigekaufter ehemaliger DDR-Bürger eng zusammenhängt.

Die deutsch-deutschen Beziehungen wirken bis in unsere Tage nach. In Berlin findet mit mäßiger öffentlicher Anteilnahme ein Prozeß gegen Egon Krenz und andere statt, bei dem es um ihre Verantwortung für den Schießbefehl geht. Die Medien haben sich dafür noch einmal interessiert, als Egon Bahr dort als Zeuge auftrat, um dem Hohen Gericht eine kleine Lektion in Zeitgeschichte zu erteilen. Bahr hat dort erklärt, das Politbüro sei in keiner wirklich wichtigen Frage sein eigener Herr gewesen. Auch habe der Schießbefehl nicht zu dessen Disposition gestanden. Alle Wege hätten über Moskau geführt. Potthoff belegt dies erneut, auch unter Bezug auf frühere Veröffentlichungen, die zu ähnlichen Einsichten führten. Der Spiegel hingegen läßt die „Sonderbeziehungen“ Herbert Wehners zu Erich Honecker zur Gegenthese hochschreiben.

Die Dokumentation und Analyse Potthoffs verstehe ich anders. Der Grundlagenvertrag wäre ohne Moskauer Zustimmung Ende 1972 nicht geschlossen worden. Fast zwei Jahre wurden benötigt, die DDR von Maximalpositionen – bei denen die Schicksale der DDR- Bürger überhaupt keine Rolle spielten – abzubringen. Danach ging es – aus unserer Untertanen- Sicht wie glücklicherweise ebenso aus Sicht der Bonner Regierungen – um die Ernte der Deutschlandpolitik. Potthoff bezeichnet – wie ich finde übertrieben – die Zeit seit dem berühmten Treffen Wehners mit Honecker 1973 als „neue“ Deutschlandpolitik, „die einerseits nüchtern, pragmatisch auf das Interesse der DDR an Westhandel, Westdevisen und wirtschaftlicher Kooperation setzte und dafür Reiseerleichterungen und Verbesserungen für West-Berlin einkaufte, und andererseits auf den direkten Draht zur Nr. 1 im SED-Staat setzte, ohne den Umweg über Moskau und möglichst unter Umgehung des Apparates und auf verschwiegenen Kanälen“ (S. 50). An anderer Stelle spricht er auch von einem knallharten Geschäft. Diese „neue“ Qualität betrachte ich nicht anders, als daß nach der Ouvertüre nun der Alltag in die deutsch-deutschen Beziehungen einzog.

Das Konzept „Wandel durch Annäherung“ wurde mit Leben erfüllt: mit den Kontakten zwischen den Menschen, Reisemöglichkeiten, von menschlichen Erleichterungen. Es war für uns Ostdeutsche gewiß immer zuwenig und traf nie alle, gewiß, war aber doch besser als der Zustand zuvor!

Es gehört zu meinem Bild Wehners, den ich selbst nicht kennenlernte, daß ihm das „kleine Glück“ individueller Menschen im Zweifel wichtiger war als die „große Politik“. Es fällt auf, daß in Potthoffs Aufzählung der Interessen Wehners nichts auftaucht, was jenseits der Kompetenz der DDR-Oberen gelegen haben könnte. Die Widersprüche reduzieren sich also erheblich. Schon dem Regierenden Bürgermeister Berlins, Brandt, war es um diese menschlichen Erleichterungen gegangen; die erste Aktion der späteren sozialliberalen Deutschlandpolitik war das Passierscheinabkommen, die Ermöglichung des gegenseitigen Besuchs von durch den Mauerbau zerrissenen Familien! Wie anders als dadurch hätte ich als Student an verbotene Westbücher kommen können.

Die DDR-Führung aber zeigte sich feige, engherzig und verlogen, als es um die Einlösung ihrer Vertragsverpflichtungen ging. Der neue Kanal über Wehner und Anwalt Vogel direkt zu Honecker vermochte diese Engherzigkeit ein wenig zu überwinden. Das ist ein bleibendes Verdienst. Nach der Enttarnung Guillaumes und dem Sturz Brandts – beides von der DDR-Bevölkerung mit Bestürzung aufgenommen – waren es diese Verbindung, aber auch die geduldige Zähigkeit von Günter Gaus und die Hartnäckigkeit von Helmut Schmidt, die einen neuen Kältetod der deutsch-deutschen Beziehungen zum Nutzen der konkreten Menschen (Ost) verhinderten. Das einsichtig-eigensüchtige Interesse Honeckers am Überleben hat dazu beigetragen.

Hinterher weiß man es immer besser – aber ist man klüger geworden? Potthoffs Buch ist geeignet, allzu flotte Urteile zu erschweren. Das ist kein geringes Verdienst. Potthoff bestätigt sich als Zeitgeschichtler, er beschreibt die Vorgänge in ihrer Reihenfolge und in ihrem Zusammenhang. Wer wissen will, wie es wirklich vor sich ging, der „Dialog auf höchster Ebene“, hier findet man die Informationen, die gegen Sensationshascherei immun machen.

Heinrich Potthoff, „Bonn und Ost- Berlin 1969–1982. Dialog auf höchster Ebene und vertrauliche Kanäle. Darstellung und Dokumente“, Verlag J.H.W. Dietz Nachf. Bonn, 1997, 788 S., 58 Mark

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen