: Pionier der Selbstfindung
Der ehemalige Pionierpalast „Ernst Thälmann“ in der Wuhlheide ist heute ein Freizeitpark. „Hauptstadtdesign 49/90“ Teil IV ■ Von Hans Wolfgang Hoffmann
Mitten im Wald von Ostberlin steht eine Kiste aus Lärchenholz. Lärmende Kinder drinnen und draußen. Hier war einst das Zentrum der Pionierrepublik DDR. Ein Kulturpalast, der erste seiner Art, in dem täglich 4.000 junge Menschen von der zweiten bis zur zehnten Klasse zusammenkamen, um ihre Freizeit zu verbringen.
Der Pionierpalast ist DDR-Architektur par excellance. Die Bauaufgabe hat in der Bundesrepublik keine Entsprechung, ist allenfalls mit Jugendfreizeitheimen vergleichbar. Betreute Freizeit für Jugendliche führte im Westen immer ein Schattendasein: Ungleich kleiner, entwickelt keines von den immerhin mehreren Dutzend Exemplaren in Westberlin ein architektonisches Selbstwertgefühl. Im Westen betreibt man architektonischen Aufwand allenfalls für die Jüngsten. Für jede öffentliche Kindertagesstätte werden aufwendige Wettbewerbe ausgeschrieben. Selbst in Hinterhöfen toben sich Stararchitekten an Schaufassaden aus, während sich die Innenräume bereitwillig festgefügten Standards unterwerfen. Und im Westen ist alles „kindgerecht“: Fenster, Türen und Treppen richten sich nach den kindlichen Proportionen, die Farben stammen aus dem Tuschkasten: Das Haus für junge Menschen tendiert zur Puppenstube, eine Persiflage. Niedlich, kindisch.
Die Bauten der DDR wenden sich nicht an Kinder, sondern an Menschen, die noch wachsen. Der Pionierpalast ist vor allem groß: 213 auf 120 Meter, 13.000 Quadratmeter, konzipiert für 4.000 Besucher täglich. Sämtliche Bauteile folgen den Maßstäben der Erwachsenenwelt. Wer über die breite Wendeltreppe emporschreitet, fühlt sich nicht mehr als Kind. Die braunen Kunstledersessel im Foyer sind geradezu riesig. Im Staatsratsgebäude saß Honecker auf dem gleichen Modell.
Statt Kindheit zu simulieren, ging es um die Ausbildung der Persönlichkeit. Der Pionierpalast bot dafür ein ungeheures Angebot: 60 Fachräume für 300 Arbeitsgemeinschaften. Das Programm reichte von Holz-, Plaste-, und Puppen-Werkstätten über die Labore für Pflanzenzucht, Fotografie und Funktechnik, von den Chor- und Orchesterproberäumen bis zu einer Puppenbühne, einer Bibliothek und dem Raumfahrtzentrum. Was hier entstand, konnte in drei Sälen aufgeführt werden. Dazu Dreifach-Sporthalle und Hallenbad. Inmitten der 120 Hektar Parklandschaft stehen Gewächshäuser, ein Badesee, Spiellandschaften, zwei Freilichtbühnen.
Dem Programm entspricht die Architektur: Das einzige bauhandwerkliche Meisterstück ist die geschwungene Treppe im Foyer. Ihr Handlauf aus Glas und Messing ist elegant, ihre Spannweite ruht auf gerade zwei Stahlkugeln. Ansonsten stoßen orangefarbene Kacheln an Holz. Curryfarbene Vorhänge hängen an eloxierten Aluminiumfenstern. Im Foyer und in den Sälen gerät die sternenhimmelartige Leuchtdecke in Konflikt mit wabenförmigen Kunststoffgebilden. Lampen, die nicht mehr wollen, als Helligkeit zu verbreiten, hängen im Schwimmbad an schlampig verarbeiteten Deckenkacheln. Doch Design ist nicht wichtig. Hier wurde nicht gestaltet, sondern projektiert. Es ging nicht um Baukunst, sondern um Gebrauchsqualität. Jeder Raum wurde so ausgestattet, wie es seine Funktion verlangte. Zusammen fügen sie sich zu einem Labyrinth, das entdeckt werden will. Gläserne Wände erlauben, seine Interessen zu finden und sich als Gemeinschaft zu fühlen. Die nach draußen getragenen Aktivitäten verwandeln das Foyer in einen „umbauten Marktplatz“. Künstlergarderobe und Foyer, Bühne und Zuschauerraum gehen fließend ineinander über. Hier kann zum Akteur werden, wer eben noch zuschaute.
Soviel Selbstbestimmung mußte sich in der DDR erst emanzipieren. In der Frühzeit der DDR gaben sich die Kulturhäuser, deren auf Jugendliche zugeschnittene Variante der Pionierpalast ist, sehr viel disziplinarischer. Bauten wie das nahegelegene Klubhaus des Kabelwerks Oberspree in der Straße An der Wuhlheide sollten das Dilemma lösen, daß der „Neue Mensch“, ohne den der Idealstaat DDR nicht funktionieren würde, erst geschaffen werden mußte. Dieser erzieherischen Bestimmung entsprechend konzentrierte sich alles auf einen zentralen Saal. In festlichem Zeremoniell empfing der Zuschauer, was oben von der Guckkastenbühne kam.
Erst Anfang der siebziger Jahre verlor dieses Verhältnis seine Einseitigkeit. Honecker gab die Prämisse aus, „den wirklichen Interessen der Werktätigen mehr Raum zu geben und sie weniger mit Ansprüchen nach kultureller Bildung zu behelligen“. Das Kulturhaus wandelte sich zum Volkspalast. Sein Ideal waren wandelbare Räume für selbstbestimmte Aktivitäten. Der Prototyp war Heinz Graffunders Palast der Republik. Gleich danach begann sein Mitarbeiter Heinz Stahn mit der Projektierung des Pionierpalastes.
In diesem Bau spielte Ideologie nur noch eine untergeordnete Rolle. Während die Kulturhäuser durch die Stilformen der Vergangenheit, vor allem des Klassizismus, formale Autorität ausstrahlen, kann man bei dieser Jägerhütte kaum von Stil sprechen. Statt eines geschlossenen Gedankengebäudes gibt es nur noch vereinzelte Applikationen, etwa den Sowjetstern am Eingang, der in viele unregelmäßig angeordnete rote Glassteine zerfällt. Die meisten Kunstwerke wie das Glasmosaik „Unsere Erde und das All“ waren ideologisch nicht eindeutig.
Die Ausstellung, die den Lebenskampf des Namenspatrons Ernst Thälmann zeigte, erhielt eine Ecke des dritten Obergeschosses – nicht eben an zentraler Stelle. Die obligatorische paramilitärische Ausbildung der Pioniere fand nur teilweise im Gebäude selbst statt: Das „militärpolitische Kabinett“ und die „Wehrerziehung“ waren ausgelagert. Nur die „Jungen Freunde der Soldaten“ versammelten sich im Gebäude und übten am Schießstand, „den Frieden noch sicherer zu machen“.
Von diesem Ballast konnte man sich nach der Wende leicht trennen. Der Pionierpalast wurde in Freizeit- und Erholungszentrum umbenannt. Sein Konzept war nach der Wende aktueller denn je. Zu allen Zeiten bestand Einigkeit, das Haus weiter zu bespielen. Strittig war nur die Betriebsform. Heute sorgen viele Träger, freie und staatliche, für die Vielfalt des Angebots. Das Haus wird wie Bad und Badesee von einer landeseigenen GmbH verwaltet, das „Haus Natur und Umwelt“ wird vom Umwelt- und Naturschutzverein bespielt. Die Parkeisenbahn ist eine eigene Gesellschaft. Die kürzlich wiedereröffnete Freilichtbühne wirtschaftet autonom.
Die Entfaltung der Persönlichkeit kommt heute mit weniger Anleitung aus. Nur noch die Hälfte der früher 420 Mitarbeiter hilft bei der Selbstfindung. Dennoch gibt es jährlich rund 10.000 Veranstaltungen. Das FEZ zählt rund 1,3 Millionen Besucher pro Jahr. Junge Leute halten das Haus weiter in Besitz.
Der letzte Teil erscheint am 6. September: Alles ein Abriß.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen