piwik no script img

Bei Lärm wird scharf geschossen

■ Ein 33Jähriger steht nach Schüssen auf Streetball spielende Jugendliche wegen versuchten Totschlags vor Gericht. Er fühlte sich durch den Lärm belästigt

Es geschah Ende März dieses Jahres in der Waldstraße in Moabit. Der 16jährige Sandro und seine sechs Freunde trafen sich, wie so häufig zuvor, in der verkehrsberuhigten Straße, um Streetball zu spielen. Plötzlich wurden sie von einer barschen Stimme aufgeschreckt: „Seid gefälligst ruhig. Scheiß Ausländer, ich bring' euch alle um“, schallte es durch die Dunkelheit. Kurz darauf hallten mehrere Schüsse über die Straße. Das Mündungsfeuer verriet, wo der Schütze stand: auf einem Balkon im ersten Stock eines 50 Meter entfernten Wohnhauses. Zuerst waren es nur Schreckschußpatronen, doch dann wurde es bitterer Ernst. „Du kannst bald ohne Beine rumlaufen“, bellte die Stimme aus dem Dunkeln in Richtung von Sandro, der vor einer kleinen Mauer stand. Der Junge sprang intuitiv zur Seite: „Wenn ich stehengeblieben wäre, hätte er mich getroffen“, sagte der 16jährige gestern als Zeuge vor Gericht.

In dem Prozeß muß sich der 33jährige Jürgen S. wegen versuchten Totschlags verantworten. Der arbeitslose Maurer beruft sich darauf, an dem Tatabend so betrunken gewesen zu sein, daß er einen „Blackout“ gehabt habe. Wäre die Geschichte nicht so ernst, könnte man meinen, der Mann habe in seinem Leben zu viele Western gesehen. Die Kripo fand bei seiner Wohnungsdurchsuchung über ein Dutzend Pistolen und Revolver in allen erdenklichen Ausführungen, für die es jedoch keines Waffenscheins bedurfte, weil sie nicht scharf waren. Außerdem nannte Jürgen S. einen Colthalter und echte Handschellen sein eigen. „Warum soll ich ,Scheiß Ausländer‘ gesagt haben“, wehrte sich der mittelgroße Angeklagte mit dem hageren Gesicht und dem in Cowboymanier nach unten gezogenen Schnauzbart. „Ich habe selbst eine Freundin, die ist Ausländerin.“ Auf die Frage seiner Verteidigerin räumte er lediglich ein, sich durch das Aufticken der Basketbälle sehr gestört gefühlt zu haben. Wie zum Beweis tippelte er mit seinen Füßen auf dem Gerichtsboden. „Da würden Sie sich auch gestört gefühlt haben“, sagte er, an die Richter gewandt. Von morgens um halb vier bis kurz vor Mitternacht hätten die Ballspiele gedauert.

Sandro und seine Freunde machten als Zeugen vor Gericht keinen Hehl daraus, daß sie die aus dem Dunkeln kommende Beschimpfung zunächst mit ähnlichen Worten zurückgegeben hätten. Doch dann hätten sie schnell den Ernst der Lage erkannt. Nach den ersten Schreckschüssen habe sich das Mündungsfeuer farblich verändert, und anderthalb Meter neben Sandro sei ein Geschoß in die Mauer geschlagen.

Die Jugendlichen riefen die Polizei. Die hielt die Angaben der Jungs zunächst jedoch für eine Übertreibung. Als sie Jürgen S. festnahmen, bedrohte jener einen Jungen erneut: „Wir sehen uns wieder, dann bist du tot.“ Erst auf einer sechs Wochen später von der Beratungsstelle Treffpunkt Waldstraße veranstalteten Diskussion hätten die Beamten ihren Fehler eingeräumt, sagte ein Mitarbeiter des Treffpunkts zur taz. Nachdem die Beamten bei einer erneuten Wohnungsdurchsuchung die Patronenhülsen und die von Jürgen S. hinter dem Gasherd versteckte scharfe Waffe gefunden hätten, hätten sie die Geschichte der Jungen erst geglaubt. Der Prozeß wird fortgesetzt. Plutonia Plarre

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen