: Volkes Stimme, Volkes Alltag
Mit ihrem Wahlkampf zur Inneren Sicherheit verhindert die Hamburger SPD eine sachliche Auseinandersetzung über die Probleme der Stadt. Dabei erreichen Bürger und Politik vor Ort am meisten, wenn Volkes Stimme nicht den Ton angibt ■ Aus Hamburg Andrea Böhm
Ortwin Runde ist Ostfriese und Finanzsenator. Es gibt Leute, die ihn um keine dieser beiden Eigenschaften beneiden, aber das nimmt er mit Gelassenheit. Scherze über die vermeintliche Behäbigkeit der viel geschmähten Minderheit macht er am liebsten selbst. Und wenn er über Hamburgs derzeit gar nicht komische Haushaltslage referiert, dann verweilt Ortwin Runde mit einem durch und durch gelassenen Gesichtsausdruck so lange auf den Vokalen, daß man nicht glauben möchte, es könnte brenzlig werden in der Hansestadt.
Dabei serviert der Politiker an diesem Sonntagmorgen in der Wilhelmsburger Kneipe „Pianola“, wo Geigen und Schifferklaviere von der Decke hängen, vor etwa 20 potentiellen WählerInnen harte Brocken: Jawohl, Schulden hat die Stadt. Anteile am städtische Energiekonzern HEW und an der Landesbank mußte man verkaufen. Bei dieser fortschreitenden Veräußerung von „Volksvermögen“ wird einem Sozialdemokraten wie ihm schon „plümerant“. Vorbei ist es mit dem Aufschwung nach der Vereinigung, die Arbeitslosenrate liegt bei 13 Prozent. „Reicher“, sagt Runde und verweist auf das steigende Einkommen aus Kapitalvermögen, „werden nur die Reichen.“ Und habe nicht sogar die BILD-Zeitung festgestellt, daß die Kleinen wieder mal die Dummen sind? Die Bewohner der ärmeren Viertel Hamburgs zahlen immer mehr Steuern, die Millionäre in Blankenese immer weniger. „Spitzenverdiener kommen mit ganz legalen Mitteln ohne einen Pfennig Steuerzahlung davon.“
Die zwanzig Damen und Herren mittleren Alters – manche SPD-Mitglieder, manche nicht – nicken mit jenem resigniert-abgeklärten Blick, der sagen will: So ist das eben mit den Bonzen. „Was kosten uns denn die 3.000 Afrikaner, die ihre Pässe weggeschmissen haben und die man nicht abschieben kann?“ will einer wissen. „Kriegen die Sozialhilfe oder leben die vom Drogenhandel?“ Da ist sie wieder, die Stimme aus dem Volke, die zu achten sich die SPD in diesem Wahlkampf vorgenommen hat. Gar nicht aggressiv, gar nicht pöbelnd, sondern höflich. Wozu sich lange bei Themen wie Steuerungerechtigkeit aufhalten, die zum Leben gehört wie der Stau auf der Autobahn, wenn man sich scheinbar lösbaren Problemen zuwenden kann...
„Law and order is a Labour issue“ hatten die Hamburger Sozialdemokraten gleich zu Beginn des Wahlkampfs plakatiert – eine Verbeugung vor Großbritanniens Polit-Genie Tony Blair, der seinem ohnehin zerrupften konservativen Gegner noch die letzten politischen Federn und Felder geklaut hatte. Inzwischen wird an der Elbe nur noch auf deutsch um Wählerstimmen geworben – zum Beispiel im lückenlosen Spalier der Straßenbäume um den Hauptbahnhof. „Deutsch wählen“ kommandiert die „Deutsche Volksunion“ (DVU), „Tut endlich was“, fordern die „Republikaner“. Dazwischen postieren gerade ein paar kurzgeschorene junge Männer Wahltafeln der NPD. „Arbeit zuerst für Deutsche“ steht da. Und: „Sicherheit durch Recht und Ordnung.“
Wie schon bei den Bürgerschaftswahlen vor vier Jahren dürfte die Vielfalt der rechtsextremen Parteien auch dieses Mal dafür sorgen, daß keiner der Sprung über die Fünfprozenthürde in die Hamburger Bürgerschaft gelingt. Doch beim Anblick ihrer dicht gestaffelten Plakate drängt sich dem Besucher dieser Tage nicht gerade der Eindruck der Weltoffenheit auf, derer Hamburg sich so gerne rühmt.
Wilhelmsburg ist ein Stadtteil, in dem 1993 zwölf Prozent ihre Stimme einer rechtsextremen Partei gegeben haben – und über dessen Befindlichkeit man vier Jahre später unterschiedliche Auskünfte bekommen kann. „Hier kocht es“, orakelt düster der Spitzenkandidat der CDU, Ole von Beust, und meint den in seinen Augen unannehmbar hohen Bevölkerungsanteil der Immigranten. Irgendwie könne er es „psychologisch schon nachvollziehen“, wenn Leute unter diesen Umständen rechtsextreme Parteien wählen.
„Hier bewegt sich was, worum uns andere Stadtteile beneiden“, sagt Wolfgang Marx, SPD-Abgeordneter der Bürgerschaft, der dieser Tage recht zuversichtlich seine Wiederwahl ansteuert.
Wilhelmsburg hat 45.000 Einwohner, eine Arbeitslosenquote von 16 Prozent; viele Männer, die mittags in Hauslatschen an der Theke ein Bier nach dem anderen picheln; viele alleinerziehende Mütter, die sich und ihre Kinder irgendwie zwischen Armutsgrenze und „prekärem Wohlstand“ durchbringen. Ein Drittel der Einwohner sind Einwanderer meist türkischer Herkunft, die kamen, als Industrie und Hafen noch Jobs anboten. Von der Werftenkrise und den Massenentlassungen waren sie und Deutsche gleichermaßen betroffen, was die Spannungen erhöhte. Auf der einen Seite die Deutschen, sagt Wolfgang Marx, „mit ihren Abstiegsängsten“ – auf der anderen Seite die Immigranten mit ihrer Aufstiegserfahrung. Letztere reagierten auf die Krise mit sehr viel mehr Improvisationstalent und Agilität als erstere.
Nun macht der Stadtteil eine solche Phase nicht zum ersten Mal durch, und Marx fragt sich manchmal, ob „man das alles mit Blick auf die Geschichte etwas gelassener sehen sollte“. Vor gut 100 Jahren waren es die rasante Industrialisierung und die Zuwanderung polnischer Arbeiter, die das Viertel völlig umkrempelten. Als die katholischen Polen ihre erste Kirche bauen wollten, kochte die deutsch-protestantische Volkseele – um ein paar Jahrzehnte später ihren Zorn zusammen mit den Neuankömmlingen auf andere Ziele zu richten: Niedrigstlöhne, erbärmliche Arbeitsbedingungen und Wohnverhältnisse. „Wilhelmsburg“, so liest man auf einer Straßenausstellung zur Geschichte der Flußinsel im Süden Hamburgs, „wurde rot. Gewerkschaften, SPD und KPD bekamen Zulauf. Und es heißt, die polnischen Arbeiter haben sich automatisch miteingegliedert.“
100 Jahre später trug die SPD erneut zum – punktuellen – Schulterschluß bei, indem der Hamburger Senat das krisengeschüttelte Arbeiterviertel als Standort für eine Müllverbrennungsanlage erkor. Aus den erfolgreichen Protesten von Deutschen und Immigranten sind Strukturen entstanden, in denen „Quartiervertreter“, Ladenbesitzer, Polizeibeamte, Jugend- und Sozialarbeiter anstehende Probleme beraten. Angefangen von den türkischen Jugendlichen, die eine Zeit lang mit ihren Kampfhunden die S-Bahn-Station am Wilhelmsburger Einkaufszentrum unsicher machten, bis hin zur wachsenden Verarmung des Viertels durch den Wegzug der Besserverdienenden. Ersterem begegnete man mit massiver Polizeipräsenz und Sozialarbeitern aus dem benachbarten „Haus der Jugend“. Letzterem mit der Aufhebung der Fehlbelegungsabgabe.
Doch über dieser handfesten Politik hat sich die mediale Wahlkampfsoße aus Kriminalität und „Ausländerproblem“ wie ein zäher Brei ausgebreitet. Daß sein Parteigenosse Henning Voscherau mit seinen Law-and-order-Parolen die „Ängste und Sorgen der Bürger“ erst richtig geschürt hat, streitet Marx entschieden ab. Angst um die innere Sicherheit gehöre derzeit „zur Befindlichkeit im Stadtteil – und zwar bei den Deutschen ebenso wie bei den Immigranten“. Aber gleichzeitig konstatiert er nüchtern, daß die Ausländerfeindlichkeit „deutlich“ gestiegen sei. Das merkt nun auch der Bürgermeister im Gespräch mit dem Wahlvolk. Voscherau sah sich unlängst mit einer Menschenmenge konfrontiert, die den Vorschlag einer Frau beklatschte, schwarze Drogenhändler aus dem Helikopter ins Meer zu werfen.
„Schutzraum – keine Dealer, keine Drogen, keine Depots“ steht auf dem Schild, hinter dem hin und wieder ein pausbäckiges Gesicht mit Schnuller oder Daumen im Mund auftaucht. Sonja Deuter und ihre MitstreiterInnen der „AnwohnerInnen-Initiativen Schanzenviertel“ haben sie rund um den Flora-Park und den Kinderspielplatz aufgestellt, weil „das hier unser Lebensraum ist und wir mal ein paar Grenzen aufzeigen mußten“. Die Adressaten dieser Warnung sind Drogenabhängige und einige jener Afrikaner, nach deren Lebensunterhalt sich der höfliche Wilhelmsburger bei Finanzsenator Runde erkundigt hatte. Sie stehen in kleinen Grüppchen im Schanzenpark, warten oder werben ganz offen um Kunden. Nähert sich die Polizei, verschwindet das in Staniol gewickelte Kokain schnell im Mund. Ein Schluck aus der Bierdose hinterher – und weg ist das Beweismittel. Zum Leidwesen vieler Hamburger verzichtet die Polizei auf die Verabreichung von Brechmitteln.
Daß ein Teil der Drogenszene durch Polizeieinsätze ausgerechnet ins Schanzenviertel, Hamburgs links-alternativer Hochburg, abgedrängt worden ist, kommentiert so mancher, der nicht hier wohnt, mit einer gewissen Süffisanz. „Mein Gott“, sagt Wolfgang Marx, „bei denen müssen ja Weltbilder einstürzen, wenn sie plötzlich feststellen, daß Ausländer kriminell sein können.“
Für „so blöd“ möchte Sonja Deuter nicht verkauft werden, die voraussichtlich als Abgeordnete der Grünen demnächst öfter in der Hamburger Bürgerschaft mit Wolfgang Marx wird plaudern können. Aber ein „paar Lernprozesse“ gibt sie gern zu. Vor zehn Jahren hätte sie sich nicht vorstellen können, je mit der Polizei Patrouillen durch Kinderspielplätze und Anwohnerparks abzusprechen. „Aber Entwicklung heißt beweglich bleiben“, sagt sie.
Ein bißchen Beweglichkeit hätte auch ihrer Partei gut getan, die vom Wahlkampfthema Innere Sicherheit kalt erwischt worden ist und in Gestalt ihrer Spitzenkandidatin Krista Sager seitdem wirkt, als hätte man sie mit nicht gemachten Hausaufgaben ertappt. Sonja Deuter hat da weniger Berührungsängste. „Ich kümmere mich um diese Probleme seit Jahren“, sagt sie und grüßt eine Nachbarin, die für die nächste Stunde von der Holzbank aus auf den Park aufpassen will. Dealer und Junkies auffordern, „ihre Geschäfte woanders zu verrichten“, heißt die Devise. Und: Drogendepots werden sofort vernichtet. Das hat man den Dealern auf mehrsprachigen Flugblättern mitgeteilt.
Soviel Bereitschaft zur Kommunikation teilen beileibe nicht alle Bewohner des Schanzenviertels. Da ist Dembo Marenah, Immigrant aus Gambia und Inhaber des Reggae-Kellers „Fuladu“, der härtere Polizeieinsätze und Strafverfolgung der Dealer fordert und die faktische Tolerierung des Drogenhandels als Versuch interpretiert, durch die offensichtlichen Straftaten einer kleinen Minderheit Stimmung gegen die große Mehrheit der Schwarzen in Hamburg zu erzeugen. Da ist, ein paar hundert Meter weiter, Günter Buchfink, der im letzten Jahr für seine Kneipe „Machwitz“ Clubausweise einführte und einen „Nachweis über die Nichtbeteiligung am Drogenhandel“ verlangte. Das „Machwitz“ war innerhalb kurzer Zeit zum bevorzugten Aufenthaltsort der schwarzen Drogenhändler geworden – „und die haben gedealt, daß die Heide wackelt.“ Mit den Clubausweisen handelte er sich zwar einen unfreundlichen Besuch der Autonomen aus dem Viertel ein, aber die Dealer wurde er los. Illusionen über eine Lösung des Problems macht er sich nicht: „Wo es Sucht gibt, gibt es Dealer – die Frage ist dann nur noch, wo der Handel stattfindet.“
Wo man in Wilhelmsburg ein freimütiges „Laßt sie kotzen“ hört, legt Sonja Deuter bei der Frage des Einsatzes von Brechmitteln die Stirn in sorgenvolle Falten. Bei aller Bereitschaft zur Kooperation mit der Staatsmacht – solange es „hier eine rassistische Schere in den Köpfen gibt“, lehnt sie solche Methoden ab. Schließlich war es die Hamburger Polizei, die vor nicht allzulanger Zeit durch schwere Mißhandlungen von schwarzen Kleindealern in die Schlagzeilen geriet. Wo Nachfrage herrsche, sei auch ein Angebot mitsamt den Händlern, glaubt Deuter, und daran würden auch Brechmittel nichts ändern. Statt dessen fordert sie mehr Fixerstuben – und „Duldungsräume, wo gedealt werden kann, solange man sich zu keiner staatlich kontrollierten Drogenabgabe durchringt“. Was sich von der gegenwärtigen Praxis der Polizei im Schanzenpark nicht groß unterscheiden würde – „bloß werden einzelne Dealer durch Platzverweise immer wieder in die Wohngebiete gedrängt“.
Es ist drei Uhr nachmittags an einem kühlen Montag. Im Schanzenpark bietet sich ein bizarres Bild. Mütter und Väter schieben Kinderwagen über die Kieswege. Ein paar Penner lassen die Flasche kreisen, während Dutzende junger schwarzer Männer mit Schnalzen oder Zischen potentielle Kunden auf sich aufmerksam machen wollen. Hin und wieder läuft ein Polizist durch den Park. „Do You need something“, fragt ein junger Afrikaner eine Spaziergängerin. „Yes“, antwortet sie. „Fresh air.“ Er stutzt – offensichtlich grübelnd, ob es sich dabei um die neueste Modedroge handeln könnte. Was immer es ist, er hat es nicht im Angebot.
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