Kein Kohlhaas

■ Nach ihrem Ja zum Lauschangriff bleiben der SPD nur vergebliche Illusionen

Nun hat es also auch Henning Scherf geschafft. Eine Woche lang durfte die Nation zusehen, wie ein Mann mit seinem Gewissen ringt. Jetzt ist es vollbracht.

Scherf war davon überzeugt, daß jeder Bürger dieser Republik ein Recht darauf hat, in seinen eigenen vier Wänden unbelauscht vom Staat zu sagen, was er denkt. Die Unverletzlichkeit der eigenen Wohnung bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß jeder ein Refugium des Rückzugs hat, daß ein staatsfreier, nichtöffentlicher Raum existiert. Die Akzeptanz dieses Raums ist eines der wichtigen Unterscheidungsmerkmale zwischen einem freiheitlichen und einem totalitären Staat. Seit gestern gibt es diesen Raum hierzulande nicht mehr.

Es kennzeichnet die Diskussionen der letzten Tage, daß der Graben zwischen Ja und Nein, zwischen der Existenz des Freiraums und seiner Abschaffung verbal zugeschüttet wurde – das Publikum wurde geradezu dummgeredet. Alles nur, um für Henning Scherf einen Grat zu schaffen, über den er dann gehen konnte – obwohl er vermutlich immer noch davon überzeugt ist, daß die Unverletzlichkeit der Wohnung zu den grundsätzlichen Freiheitsrechten gehört. Dabei weiß Scherf – und wissen die anderen Gegner des Lauschangriffs in der SPD genau, daß die Demontage des Grundrechts durch die jetzt noch einmal erzwungene Diskussion über die Ausführungsvorschriften nicht zu heilen ist. Selbst wenn, was nicht sehr wahrscheinlich ist, die Koalitionsmehrheit des Bundestages einen Vermittlungsvorschlag, der den Schutz von allen Anwälten, Ärzten und Journalisten vorsieht, jetzt passieren lassen würde, wäre damit nicht viel gewonnen. Im Gegensatz zum Grundgesetz können solche Gesetze jederzeit durch einfache Mehrheit geändert werden.

Tatsächlich wollte Scherf nicht den Kohlhaas machen und hat sich letztlich willig mit der Schminke über dem Bruch zufriedengegeben. Schröder hat mit der ihm eigenen Direktheit dazu gesagt, was zu sagen ist: Wer unbedingt die Illusion braucht, soll sie haben. Ändern wird das nichts. Gewinner der ganzen Affäre ist SPD-Chef Lafontaine. Er hat gezeigt, wie man Dissidenten erfolgreich umdreht und für Mehrheiten sorgt. So profiliert sich ein Manager für eine große Koalition, die sich nach dem Asyl und der Wohnung den nächsten Verfassungsanachronismus vornehmen kann. Jürgen Gottschlich