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Hauptsächlich männliche Bauernopfer

■ 2560 SchülerInnen spielen beim Schachturnier „Rechtes gegen linkes Alsterufer“

Eine Coladose bedroht den schwarzen König. Die Dame, geschlagen, steht neben dem Brett, bewacht von einer Tüte Nüsse. Ein träger Blick ihres Besitzers macht klar: Über dem Schachspiel schwitzt niemand mehr. „Ich hab' gewonnen“, sagt Felix ernst und kippelt mit dem Stuhl. Kein Lächeln, die Zahnspange bleibt verborgen. Zu sehen ist sie erst, als Felix' Mannschaft sämtliche Spiele gegen das Gymnasium Eppendorf gewinnt. „Acht zu Null“, sagt der 14jährige da und lächelt. Macht acht Punkte für das linke Alsterufer, das gestern zum zweiten Mal in Folge die SchülerInnen vom rechten Alsterufer beim größten Schachturnier der Welt besiegt hat. „Vom Niveau her ist es hier nicht so interessant“, findet Felix und setzt den eigenen König Schachmatt, nur so aus Langeweile.

Zum sechsten Mal ist der Gymnasiast schon dabei. Das System des Turniers im Congreß-Centrum CCH ist einfach und immer dasselbe: Wer rechts der Alster zur Schule geht, kämpft gegen alle, die links lernen. Ein Blick auf den Stadtplan, und die Fronten sind klar. JedeR der 2500 SchülerInnen spielt nur eine Partie, und nach drei Stunden ist die Sache gelaufen. Wer fertig ist, guckt zu oder schmeißt am Wurfstand zusammengerollte Socken auf ein Klett-Schwein. Und im Foyer des CCH läßt es sich auf glatten Sohlen prima schliddern.

Nach diesem Konzept läuft das Turnier bereits seit 40 Jahren. 1988 schafften es die Schulen ins Guinness-Buch der Rekorde, weil sich noch nie zuvor so viele Menschen an einem Schachwettkampf beteiligt hatten. Mehr als 3616 SchülerInnen machten damals mit – wie auch in diesem Jahr hauptsächlich Jungen. Nur 15 Prozent der TeilnehmerInnen sind Mädchen.

„Mädels kriegen einfach keinen Zugang zu dem Spiel“, glaubt der 14jährige Felix. „Jungen sind schlicht zu arrogant, wenn sie gegen Mädchen spielen“, meint Matthias Wahls, Deutscher Schachmeister und Ehrengast beim Alsteruferkampf. „Wenn sie sich so benehmen, sind sie selbst schuld, daß kaum Mädels kommen.“Früher ist Wahls selbst bei dem Turnier angetreten. „Als überzeugter Wandsbeker“für das rechte Alsterufer. Jetzt spielt der 30jährige im Foyer gegen 20 SchülerInnen gleichzeitig. Vielleicht ist ja einer oder eine dabei, die wie er Schachprofi wird. Jemand, für den das Spiel mit den Bauernopfern und Schlachtrössern ebenso „die Suche nach der Wahrheit“ist wie für Wahls. „Schach ist ein Mikrokosmos“, schwärmt der Großmeister, „ästhetisch und mit unheimlich viel Tiefgang“.

Landesschulrat Peter Daschner sieht das pragmatischer: Vor allem schiebe der Schwarz-weiß-Kampf das Lernvermögen an. „Schach steigert die Abstraktionsfähigkeit und fördert die schulischen Leistungen.“Deshalb, folgert Daschner, sei das Spiel „auf jeden Fall ein Sport“. Unfug, pöbelt der Fünftkläßler Marco hinter seinem leergefegten Schachbrett: „Fußball ist viel besser!“

An den meisten Tischen leeren sich die Bretter schnell. Gemetzelte Figuren posieren am Rand oder fallen klackend in Holzkisten, die rechteckig sind wie kleine Särge. „Beim Schach“, sagt Matthias Wahls, „ist man sein eigener König. Man steht auf einem Hügel und befiehlt seiner Armee.“

Der Viertkläßler Marius hat die Waffen gestreckt. Er sitzt da und weint. Sein Lehrer ist ratlos: Marius hat fast gewonnen. Die Dame des Gegners hat er schon geschlagen, der Sieg ist beinahe sein. „Ich will aber nicht mehr spielen“, flennt Marius, und dabei bleibt es. Zusammen mit seinem Betreuer geht er raus – vorbei an dem feisten Stoffteddy, der als Maskottchen mitgefahren ist und vorbei an einem Oberstufenschüler, der zwischen den Zügen in einem Buch blättert – „Das Spiel ist aus“von Sartre.

Judith Weber/Fotos: Hendrik Doose

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