■ Warum hat der „Spiegel“ 1960 die These etabliert, nur der Anarchist Marinus van der Lubbe könne den Reichstag angezündet haben – und nicht die Nazis? Lag es an alten NS-Seilschaften, die Rudolf Augstein ab 1947 für sich arbeiten ließ? Von Alexander Bahar und Wilfried Kugel
: Augstein und die Gestapo-Connection

Das letzte taz mag hat neue Aktenfunde zum Reichstagsbrand von 1933 vorgestellt. Sie liefern Indizien dafür, daß die Nazis doch die Brandstifter waren. Heute beschäftigen sich die Autoren mit der zweifelhaften Rolle des einflußreichsten deutschen Magazins in diesem erbittert geführten Historikerstreit.

In einer spektakulär präsentierten und unter dem Namen des Amateurhistorikers Fritz Tobias erschienenen Artikelserie sprach der Spiegel 1959/60 als erstes meinungsbildendes Blatt der jungen Bundesrepublik die Nationalsozialisten von jeder Schuld am Reichstagsbrand von 1933 frei: Der Holländer Marinus van der Lubbe habe den Brand allein gelegt, die Nazis seien völlig überrascht worden.

Wie Tobias später zugab, hatte an dem Spiegel-Manuskript allerdings ein ehemaliger Nazi mitgearbeitet: der SS-Obersturmbannführer Paul Karl Schmidt, Pressechef des als Kriegsverbrecher hingerichteten NS-Außenministers Joachim von Ribbentrop, der später unter dem Pseudonym Paul Carell kriegsverherrlichende Romane wie „Verbrannte Erde“ verfaßte.

Fritz Tobias soll während des Zweiten Weltkriegs Mitglied der Geheimen Feldpolizei gewesen sein – die Gestapo der Wehrmacht. Das berichtet u.a. Otto Strasser, der Bruder des von den Nazis beim „Röhm-Putsch“ ermordeten ehemaligen NS-Reichsorganisationsleiters Gregor Strasser. Tobias selbst hat dies bestritten und immer wieder auf seine langjährige SPD-Mitgliedschaft verwiesen.

Tobias' Hauptquellen für die Spiegel-Serie waren Aktenauszüge von Alfons Sack, Verteidiger im Reichstagsbrandprozeß und NSDAP-Mitglied, außerdem die „Erinnerungen“ des ersten Gestapochefs Rudolf Diels und die Bekundungen der damals im Auftrag Görings ermittelnden Kriminalkommissare.

Diels' politische Vergangenheit reicht noch bis vor die Machtübernahme der Nazis zurück. Als am 20. Juli 1932 Reichskanzler Franz von Papen die SPD-geführte Regierung Preußens absetzte („Preußenschlag“), war Diels Dezernent für Linksradikalismus in der Polizeiabteilung des preußischen Innenministeriums und hatte jene Intrige mit eingefädelt, die Papens kalten Staatsstreich ermöglichte.

Dafür wurde er zum Oberregierungsrat befördert. O-Ton Diels: „Nach dem 20. Juli 1932 wurden meine Befugnisse zur Bekämpfung des Kommunismus bedeutend erweitert, und ich konnte mich bereits damals im engsten Einvernehmen mit den führenden Männern der NSDAP der Vorbereitung der Niederwerfung des Kommunismus in Deutschland widmen.“ Unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme wurde die Politische Polizei unter Diels' Leitung Görings preußischem Innenministerium unterstellt. Später wurde daraus die Gestapo. Ihr erster Chef: Rudolf Diels. Schon 1948/49 räumte Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein Diels Raum für eine achtteilige apologetische Serie ein, die vor Geschichtsfälschungen nur so strotzt (Titel: „Die Nacht der langen Messer... fand nicht statt“). In einem einführenden Beitrag des Spiegel wurde Diels hauptsächlich als Bauer, Falkner und „beinahe Mediziner“ vorgestellt. Der virtuose Anpasser, der 1943 die Witwe von Görings verstorbenem Bruder heiratete, durfte sich als Demokrat präsentieren, der die Position als Gestapochef nur genutzt habe, Schlimmeres zu verhindern. Zum Reichstagsbrand behauptete Diels im Spiegel: „Ich selbst habe schon einige Wochen nach dem Brand und bis 1945 geglaubt, daß die Nationalsozialisten die Brandstifter gewesen seien. Ich glaube es heute nicht mehr.“

Dagegen bezeugt eine Reihe von Personen, darunter der stellvertretende Chefankläger des Nürnberger Gerichtshofs, Robert Kempner, daß Diels ihnen gegenüber – zuletzt kurz vor seinem Tod 1957 (Jagdunfall!) – geäußert habe, die Nazis hätten den Reichstag in Brand gesteckt. Als Anführer der Brandstifter habe Diels den SA-Führer Hans-Georg Gewehr, Spezialist für selbstentzündliche Brandmittel, genannt.

Die Alleintäterthese wurde 1949 aus der Taufe gehoben – präsentiert in einer Artikelserie, die in der Zeitschrift Neue Politik des Schweizer NS-Kollaborateurs Wilhelm Frick erschien. Hinter dem „Assessor Dr. Schneider“, der darin als Gewährsmann für die Unschuld der Nazis am Brand auftritt, verbirgt sich jedoch kein anderer als der anonyme Autor selbst: Dr. Heinrich Schnitzler, der mit Diels schon den „Preußenschlag“ vorbereitet hatte, war unter anderem Mitorganisator der Massenverhaftungen in der Brandnacht.

Nach 1945 reüssierte er als Ministerialrat in der Polizeiabteilung des nordrhein- westfälischen Innenministeriums. Die Nachkriegskorrespondenz zwischen Diels und seinem Intimus Schnitzler enthüllt, wie sie ihre Aussagen für die Entnazifizierung aufeinander abstimmten. Diels: „Es scheint mir wichtig, unsere Arbeit als eine einheitliche Widerstandsleistung darzustellen, die zunächst den Gang der Entwicklung weg vom Rechtsstaat und hin zum reinen Terrorismus verzögert hat.“

Für die Neuinterpretation des Reichtagsbrandes hielten Diels und Schnitzler in ihrem Briefwechsel unisono einen Mann für besonders geeignet: Dr. Walter Zirpins, seinerzeit als Kriminalkommissar Mitglied der von Göring eingesetzten Brandkommission. Seit 1933 Lehrer am Kriminalpolizeiinstitut Berlin-Charlottenburg, war Zirpins Anfang der vierziger Jahre als SS- Obersturmbannführer im Ghetto von Lodz (Litzmannstadt) mit der „Bekämpfung des jüdischen Verbrechertums“ beauftragt (siehe den Artikel von Lutz Hachmeister in der taz v. 27.12.96)

Nach dem Krieg brachte es Zirpins in Niedersachsen bis zum Landespolizeidirektor – unweit von Rudolf Diels: Der Ex-Gestapo-Chef stand als Regierungspräsident zur Wiederverwendung in Diensten der Landesregierung Hannover (wo der Spiegel in den Anfangsjahren seinen Sitz hatte). Zirpins und Diels avancierten wohl nicht zufällig zu Kronzeugen für die Spiegel-Serie von Tobias. Der hatte seine Nachkriegslaufbahn bei der Entnazifizierungsbehörde in Hannover begonnen (hier lernte man sich vermutlich kennen und schätzen) und stieg später zum Ministerialrat beim niedersächsischen Verfassungsschutz auf.

Befördert wurde Zirpins' Karriere durch Rudolf Augstein. Bereits in seiner Serie „Das Spiel ist aus – Arthur Nebe“ von 1949, die Augstein zusammen mit dem ehemaligen preußischen Kriminalrat und SS-Hauptsturmführer Bernhard Wehner verfaßte, hob der Spiegel die Unterschiede zwischen den angeblich überwiegend unbescholtenen Kriminalisten des Reichskriminalpolizeiamts einerseits sowie SS und Gestapo andererseits hervor.

Die Serie führe, so Augstein, „den heutigen Polizeiverantwortlichen vor Augen, daß die Kriminalpolizei „auf ihre alten Fachleute zurückgreifen muß, auch wenn diese mit einem NS-Dienstrang angeglichen worden waren“. Wie ungerecht, so das Klagelied des Spiegel, daß ausgerechnet diese „Elite der bewährten deutschen Kriminalisten“ stempeln gehe oder „von kleinen Wartegeldern“ leben müsse. Ihr einziges Verbrechen habe darin bestanden, daß sie – quasi ungewollt – mit SS-Titeln versehen worden seien (Spiegel vom 14.3.51). Augstein: „Da hieß dann eben der Kriminaldirektor Nicht-Pg. Dr. Zirpins vom Polizeiinstitut Berlin-Charlottenburg, der 1933 wegen seiner speziellen Fähigkeiten aus dem Weimarer Kripoapparat übernommen worden war, ab 1939 SS-Hauptsturmführer honoris causa.“ In Wahrheit beweist Zirpins handschriftlicher Lebenslauf, daß er schon im Mai 1937 als SS-Mitglied geführt wurde, als der Eintritt auch für Mitglieder der Kriminalpolizei noch weitgehend freiwillig war.

Im selben Beitrag legte der Spiegel eine „Liste der früher maßgeblichen Kriminalisten“ vor, die rehabilitiert, aber bis dahin noch nicht wieder eingestellt worden waren, und deren Wiederverwendung im Bereich „Innere Sicherheit“ angeblich im nationalen Interesse sei. Unter diesen „alten Sherlock Holmes“ (Spiegel) waren nicht weniger als drei Männer, die bei Görings „Aufklärung“ des Reichstagsbrandes eine wichtige Rolle gespielt hatten: Kriminalkommissar Helmut Müller, der im Reichstagsgebäude Fingerabdrücke gesichert hatte, die nicht von Marinus van der Lubbe stammten – eine Tatsache, die dem Reichsgericht vorenthalten wurde; dazu Zirpins sowie ein Kriminalrat a.D. Braschwitz, sehr wahrscheinlich Zirpins' einstiger Vorgesetzter Dr. Rudolf Braschwitz.

Dieser hatte den später freigesprochenen kommunistischen Funktionär Georgi Dimitroff unter Eid mit gefälschten Beweismitteln beschuldigt und tat während des Krieges im besetzten Frankreich Dienst als Feldpolizeidirektor und SS- Sturmbannführer bei der Geheimen Feldpolizei. Mit Augsteins publizistischer Hilfe brachte er es nach dem Krieg zum stellvertretenden Leiter der Kripo Dortmund.

Als Antwort auf Tobias' Spiegel-Serie ließ die Zeit Hans-Bernd Gisevius zu Wort kommen, auch ein früherer Mitarbeiter von Diels, der später mit dem amerikanischen Geheimdienst und den Verschwörern des 20. Juli zusammengearbeitet hatte. Gisevius beschuldigte in seiner Serie „Der Reichstagsbrand im ZerrSpiegel“ den oben schon erwähnten SA-Mann Hans Georg Gewehr als einen der Haupttäter der Brandstiftung. Augstein erwidert (am 27. 4. 1960) mit einer aggressiven und emotionalen Replik, die eine Mischung aus Fakten und Unwahrheiten darstellt.

Um Gisevius unglaubwürdig zu machen, beschwört er immer wieder Rudolf Diels, zitiert lang und breit aus dessen Memoiren „Lucifer ante portas“, als wäre es das Evangelium. Gisevius führt er als Hochstapler vor, der nur zufällig zu den Verschwörern vom 20. Juli gestoßen sei. Ungeprüft übernimmt er Diels' Behauptung: schon Gisevius' Angabe, er sei im Auftrag von Diels zeitweilig Beobachter des Reichstagbrandprozesses gewesen, sei erlogen. In den jetzt zugänglichen Originalakten wird Gisevius dagegen bestätigt: Er hat nachweislich Prozeßberichte an Diels abgeliefert.

Auch die letzte größere Spiegel-Geschichte zum Reichstagsbrand greift, wie sich jetzt herausgestellt hat, auf einen ehemaligen NS-Experten zurück. 1970 war ein Gutachten des Instituts für Thermodynamik an der TU Berlin zu dem eindeutigen Schluß gekommen, daß Marinus van der Lubbe den Brand im Reichstag unmöglich in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit verursacht haben kann (abgedruckt in der Dokumentation „Der Reichstagsbrand“, Ahriman-Verlag Freiburg 1992). 1975 widersprach diesem Gutachten in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte ein gewisser Alfred Berndt. Er ignoriert Dokumente, die bis dahin von keinem Historiker bestritten wurden; er läßt Feuerwehrleute, Polizisten und zufällige Passanten viel langsamer agieren, als tatsächlich geschehen. Und er läßt den halberblindeten van der Lubbe seine Aktionen im dunklen Reichstag mit unglaublicher Geschwindigkeit ausführen. So gelangt Berndt zu einem Ergebnis, über das der Spiegel triumphiert: „Das letzte Rätsel des Reichstagsbrandes von 1933 ist gelöst: Ein einzelner Täter hatte doch Zeit genug, den Brand allein zu legen“, verkündet das Blatt prompt.

Berndt wird vom Spiegel als Feuerwehr- bzw. Brandexperte vorgestellt – nach den Erkenntnissen der Autoren eine Irreführung. Danach hat sich Berndt auch nach dem Krieg nie im Bereich Feuerwehr oder Brandbekämpfung betätigt. Allerdings findet sich im Bundesarchiv eine NSDAP- Karteikarte auf den Namen Alfred Berndt. Das Geburtsdatum 18.01.1907 stimmt mit Berndts eigenem Lebenslauf von 1961 überein. Aus dem geht auch hervor, daß er 1936 bis 1945 Ingenieur in Görings Reichsluftfahrtministerium war. Wieder einmal hatte der Spiegel zielsicher einen unvoreingenommenen Experten aufgetan.

In der ersten Folge dieses Dossiers ist uns ein Datumsfehler unterlaufen: van der Lubbe wurde am 10. und nicht am 24. Januar 1934 hingerichtet. (die Red.)