Mit Konfliktforschung auf du und du: Auf zum Rückzug?
■ Über türkische Jugendliche und Gewalt
„Mit der sogenannten Heitmeyer-Studie verteidigt der deutsche Verfassungsschutz seine Observierung islamischer Gruppen. Dagegen, Herr Heitmeyer, haben Sie nicht klar genug Position bezogen.“Punkt. Das war die Gegenposition aus dem Publikum am Dienstagabend, vorgetragen vom Geschäftsführer des Islamarchivs in Bremen, Mehmet Kilinc. Doch die Wirkungen seiner Studie über „Verlockenden Fundamentalismus“interessierten Wilhelm Heitmeyer, Konfliktforscher aus Bielefeld, nur wenig. Eingeladen hatte den Soziologen Bremens Ausländerbeauftragte Dagmar Lill, damit er seine empirische Untersuchung über Fundamentalismus und Gewaltbereitschaft bei türkischen Jugendlichen vorstelle: Bei einer Befragung von 1.200 türkischen Jugendlichen der dritten Generation hatten Heitmeyer und seine Crew bei jedem fünften eine Bereitschaft zur Gewalt entdeckt. Daß der Verfassungsschutz diese Zahl zur Terrorismus-Bekämpfung zweckentfremden würde, dafür könne er ja nichts, verteidigte sich Heitmeyer. Im Mittelpunkt seiner Untersuchung habe nicht die Gewaltfrage gestanden, sondern die zunehmende Desintegration der türkischen Jugendlichen: „Die traditionelle Integration durch Arbeit und Bildung funktioniert immer seltener.“Die Reaktion auf „einen rabiaten Kapitalismus, der auf ausgleichende Sozialpolitik immer weniger Rücksicht nimmt“, sei der Rückzug in die ethnischen Gemeinschaften. Verantwortlich machte Heitmeyer dafür nicht zuletzt liberale türkische Gruppen: Diese seien heute in den Stadtteilen nicht mehr präsent. Darauf gab es Contra. Ja, wer denn sonst zeige Präsenz, wenn nicht die islamischen Gemeinden, so Abdul Sari von der Islamischen Förderation Bremen. Insbesondere der von Bremens Innensenator Borttscheller als fundamentalistisch eingestufte Verein Milli Görüs betreibe konkret Integrationspolitik. „Was können wir denn überhaupt noch machen, um glaubhaft zu werden“, ergänzte Mehmet Kilinc, der sich selber als Liberalen bezeichnet, und verwies auf die mit Kirchensenator Henning Scherf veranstaltete „Islamwoche“. „Religion kann doch auch eine Brückenfunktion für eine Integration haben.“Hinsichtlich Milli Görüs bezweifelte Heitmeyer das. Selbst gegenüber dem Dialog-Angebot durch die Bremer Islamwoche zeigte sich der Wissenschaftler, der sich im Bielefelder Bürgerrat in die Politik einmischt, skeptisch. „Konfliktfähigkeit“sei wichtiger als vorschnelle Toleranz.
ritz
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