: Armut trotz Arbeitsplatz
■ Neue Studie: Jeder zweite Arme geht nicht zum Sozialamt. Darunter sind fast eine Million Erwerbstätige. Einkünfte der "verdeckt armen" Haushalte liegen um ein Fünftel unter Sozialhilfe
Bonn/Berlin (epd/taz) – Politiker streiten um den „Sozialmißbrauch“, dabei gibt es in Deutschland Millionen von Armen, die mit dem Sozialamt nichts zu tun haben wollen und sich lieber alleine durchschlagen. Armut ist in Deutschland nach einer neuen Studie nämlich wesentlich weiter verbreitet, als die offiziellen Zahlen zum Sozialhilfebezug dies nahelegen. Knapp 2,8 Millionen Menschen lebten 1995 in „verdeckter Armut“, ergibt sich aus einer gestern in Bonn vorgestellten Untersuchung, die das Institut für Sozialberichterstattung und Lebenslagenforschung (Frankfurt) im Auftrag der SPD-nahen Friedrich- Ebert-Stiftung vorgenommen hat.
Auf 100 Sozialhilfebezieher kämen rund 110 verdeckt in Armut lebende Menschen, folgerte Udo Neumann von dem Frankfurter Institut. Als verdeckt arm gelten jene Personen, die aufgrund ihres Einkommens zwar Sozialhilfe beanspruchen könnten, diesen Anspruch aber nicht geltend machen. Die Zahl der Sozialhilfebezieher betrug 1996 nach jüngsten Statistiken 2,7 Millionen.
In Westdeutschland sind der Erhebung zufolge mehr als zwei Millionen Menschen von verdeckter Armut betroffen, in Ostdeutschland waren es rund 651.000. Verglichen mit 1991 sei das Ausmaß der verdeckten Armut von 3,7 auf 3,4 Prozent der Bevölkerung leicht zurückgegangen, heißt es. Dies wird darauf zurückgeführt, daß 1991 noch viele „verdeckt Arme“ in Ostdeutschland nicht zum Sozialamt gegangen seien, inzwischen aber die staatliche Hilfe in Anspruch nehmen.
Die Einkommen von Haushalten, die von versteckter Armut betroffen sind, lagen durchschnittlich um 18,4 Prozent unter den Sozialhilfesätzen, fanden die Autoren heraus. Das Armutsrisiko hat sich nach der Studie vor allem bei Haushalten mit fünf und mehr Personen erhöht. Als Problemgruppe gelten auch Alleinerziehende. In Deutschland lebende Ausländer sind doppelt so häufig von Armut betroffen wie Deutsche. Verdeckte Armut ist nach der Erhebung auch bei 900.000 erwerbstätigen Personen anzutreffen. Ebenso wie die erwerbstätigen Sozialhilfeempfänger, die aufstockende Sozialhilfe beziehen, gehören diese Beschäftigten zur neu beachteten Gruppe der „working poor“.
Ungeachtet dieser Zahlen startet Bayern jetzt eine Bundesratsinitiative gegen Sozialmißbrauch. Danach soll es Behörden erlaubt sein, auch ohne Anfangsverdacht die finanziellen Verhältnisse von Sozialhilfeempfängern nachzufragen. Unverheiratete Paare müßten nachweisen, daß sie sich nicht gegenseitig finanziell unterstützen.
Die Bundesanstalt für Arbeit und die Bundesvereinigung der Kommunalen Spitzenverbände stellten gestern in Bonn einen gemeinsam formulierten Leitfaden vor, nachdem Sozialhilfeempfänger künftig leichter als bisher an Schulungen und Beschäftigungsmaßnahmen der Arbeitsämter teilnehmen können. BD
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