: Unter dem Deich die Geschichte entdeckt
Vor einem Jahr stand die Thälmann-Siedlung an der Oder unter Wasser. Nun war Helmut Kohl da. Der Kanzler lobte pflichtgemäß die Bewohner und interessierte sich ansonsten, was unter dem Deich vergraben worden war ■ Aus Berlin Heike Spannagel
Mannshoch liegt der gespaltene Findling auf dem Dorfanger der Ernst-Thälmann-Siedlung. „Würde mich nicht wundern, wenn das der Übeltäter war“, lacht eine Frau und deutet auf den Denkmalstein mit der Aufschrift „Zum Dank an die Helfer und Spender – Oderflut 1997“. Im Dorf hält sich ein hartnäckiges Gerücht: Der Deich bei Brieskow-Finkenheerd soll am 23. Juli vor einem Jahr nicht von allein gebrochen sein. Da habe jemand nachgeholfen, sagen die Leute, man habe eine Hochwasserkatastrophe im flußabwärts gelegenen und dichter besiedelten Oderbruch verhindern wollen.
Der Findling ist in der Ziltendorfer Niederung aber nicht wirklich Stein des Anstoßes, schließlich hat jeder vom Hochwasser betroffene Haushalt etwas für das Denkmal gespendet. Der Bildhauer Dirk Bretschneider hat den Granit gespalten - „ein physischer Kraftakt“, wie er sagt, vergleichbar mit der Wucht des Wassers, das vor einem Jahr über den Deich gekommen ist. Damals wäre von dem Findling nur die oberste Spitze sichtbar gewesen, 2,30 Meter hoch hat das Wasser im Dorf gestanden.
An diesem Samstag muß man in der Ernst-Thälmann-Siedlung schon genau hinsehen, um noch Spuren zu erkennen, die das Hochwasser hinterlassen hat. Die Häuschen rund um den Dorfanger sehen wieder aus wie neu, nur an manchen ist der abgeschlagene Putz noch nicht wieder dran. In der Ziltendorfer Niederung ist Dankeschön-Tag, die Bewohner haben 2.000 Spender aus ganz Deutschland eingeladen, um zu zeigen, was sie mit den Spendengeldern angefangen haben. Auch der Bundeskanzler ist gekommen.
„Der Dicke“, wie ihn die Leute kumpelhaft nennen, gibt sich volkstümlich. Das Volk darf an diesem Tag auch ganz nah ran, hat das Kanzleramt doch angeordnet, das Polizeiaufgebot möglichst gering zu halten. So rechte Begeisterung will allerdings nicht aufkommen. Unter der Make-up- Schicht für die Kameras wirkt Helmut Kohls Gesicht maskenhaft starr, zu genießen scheint er das Bad in der Menge nicht gerade. Besser gelingt ihm der Auftritt auf dem Podium: Er lobt die Bürger für die „guten Traditionen“, die sie mit ihrer Hilfsbereitschaft und Dankbarkeit eingehalten hätten. Der Applaus für den Kanzler fällt ordentlich aus. Mit dem Sympathiebonus des „Deichgrafen“ Matthias Platzeck (SPD) kann es Helmut Kohl aber nicht aufnehmen. Stets freundlich lachend, versteht es der Brandenburger Umweltminister eben, den Leuten aus dem Herzen zu sprechen: Die Menschen in der Niederung seien über die materielle Hilfe sehr dankbar, sagt er. Man möge verzeihen, wenn sich manch einer trotzdem unzufrieden zeige. Durch das Hochwasser hätten die Menschen alles verloren, persönliche Andenken seien nicht wiederherstellbar.
Tatsächlich hat das Hochwasser und die darauf einsetzende Spendenflut in der Bevölkerung Unmut geschürt. „Beim Geld hört die Freundschaft eben auf“, meint ein Rentner. Über die gerechte Verteilung der Spendengelder werde immer noch gestritten. Manche Spender hätten die Tausender „einfach übern Gartenzaun“ gereicht, sagt der Mann.
Um die Streitigkeiten zu schlichten, hatten die Hochwassergeschädigten in der Ziltendorfer Niederung eine Bürgerinitiative gegründet. 60 Millionen Mark galt es auf 137 zerstörte Häuser zu verteilen.
Am Dankeschön-Tag scheint der Zwist ums Geld vorerst vergessen. Gemeinsam präsentiert man den Gästen das herausgeputzte Dorf, allen voran dem Kanzler, der nach einer Erbsensuppe im THW- Zelt die inzwischen sanierte Deichbruchstelle bei Finkenheerd besichtigt. Der Erdwall sei auf einer Schicht blankem Ton „wie Wackelpudding“ gestanden und einfach abgerutscht, sagt Matthias Freude, der Präsident des Landesumweltamts. Das Gerücht um die absichtliche Zerstörung des Deichs sei damit widerlegt.
Der Kanzler indessen interessiert sich vielmehr für die historischen Funde, die bei der Deichsanierung zum Vorschein kamen: die Leichen unzähliger russischer und deutscher Soldaten, die sich 1945 an der Oder schwere Gefechte geliefert hatten. Genau an der Deichbruchstelle habe man ein deutsches Geschütz ausgegraben, sagt Matthias Freude. Das sei noch voll besetzt gewesen.
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