Er ist gar nicht (mehr) böse

■ Günter Grass' Greatest Hits: Radio Bremen hat eine ansprechende CD-ROM mit Dokumenten von, mit, über den Schriftsteller veröffentlicht / Und das ist erst der Anfang

Die Columbuskaje in Bremerhaven im Jahr 1964. Auftritt der Radio-Bremen-Moderator Gerd Wöhlecke und fragt sein Gegenüber, einen namhaften deutschen Schrifsteller: „Sollte man spöttisch sein, dann müßte man sagen, daß Bremen Sie verfolgt!?“ Der Schriftsteller heißt Günter Grass. Vier Jahre zuvor hatte der Senat der Freien Hansestadt Bremen verhindert, daß ihm der Bremer Literaturpreis für den Roman „Blechtrommel“ zuerkannt wird. Jetzt steht oder sitzt der Grass da im Columbusbahnhof und will zum ersten Mal nach Amerika – erst nach New York („Nju Jork“, wie er mit noch junger Stimme sagt) und dann weiter. Ob er auch mit dem Schiff zurückkomme, will Wöhlecke noch wissen? „Ja.“ Wieder über Bremerhaven? „Ja.“ Ein schöner Erfolg für Bremen, daß Grass nicht mehr böse ist, scheint Wöhlecke zu denken.

Daß Bremen Grass verfolgt, wäre, wenn es denn überhaupt ginge, natürlich eine Übertreibung. Daß es zwischen Bremen und Grass über den Literaturpreis-Skandal hinaus zahlreiche Verbindungen gibt, dokumentiert jetzt die Literaturabteilung des Kulturprogramms Radio Bremen 2 auf einer CD-ROM. Schlicht „Günter Grass“ heißt die im Steidl-Verlag erschienene Scheibe, die in vier verschiedenen Multimedia-Kapiteln sozusagen die Greatest Hits zum Thema Grass mit Bremen-Bezug vorstellt.

Nach dem prologhaft vorangestellten Interview in Bremerhaven hat der CD-Surfer die Auswahl zwischen Lesungen, Interviews und anderen Dokumenten. Die Literaturauswahl setzt mit „Gleisdreieck – 17 Gedichte“, „Novemberland – 13 Sonette“, „Brief an Salman Rushdie“ oder „Erbarmen mit Kuba“ den Schwerpunkt eher auf den Lyriker und Essayisten Grass als auf den Romanautor. In diesem Abschnitt erscheinen die Primärtexte, und die Lesung läßt sich per Click dazu abrufen.

Vor allem aus dem Archiv von Radio Bremen Fernsehen bedienen sich die Redakteure der CD-ROM, Jörg-Dieter Kogel und Kai Schlüter, im Abschnitt „Günter Grass in der Hansestadt Bremen“. Zwar erinnert Franz Josef Görtz an den Skandal um die „Blechtrommel“. Doch dieser Essay wurde 1992 aufgenommen. Zeitgenössisches Originalmaterial aus der Zeit oder eine Reflexion über das Echo auf die Preisverweigerung fehlt. Dafür ist neben anderen Fernsehberichten etwa über eine Ausstellungseröffnung in der Kunsthalle der Ausschnitt einer „Stadtschnack“-Sendung als Video dokumentiert. Und da bejaht Grass, der bei jedem Bremen-Besuch nach der alten Geschichte gefragt wurde, daß er es immer mit Humor genommen habe.

Erheblich ausführlicher und original Kulturprogramm ist das Kapitel „Günter Grass antwortet – Gespräche über Literatur und Politik“. Da kann man 2.820 Sekunden auf den Computerbildschirm starren und ein 1997 aufgenommenes Gespräch Harro Zimmermanns und Jörg Dieter Kogels mit Grass nachlesen oder es anderswohin schauend auch anhören. Grass erklärt da, warum die „Blechtrommel“ ein Buch der 50er und „Ein weites Feld“ ein Buch der 90er Jahre ist, spricht über Parteien und Gesellschaft und fordert, das „Parlament endlich zu einer Einrichtung zu machen, die diesen Namen verdient“. 1.453 Sekunden lang reflektiert Grass (1993) über sein Verhältnis zur SPD oder denkt (1991) gemeinsam mit Stefan Heym 1.768 Sekunden über Deutschland nach.

Jeremias H. Vondrlik hat das alles sehr ansprechend gestaltet. Allein das Biographiekapitel fällt ab. Neben Karl Otto Conradys Grass-Laudatio zur Verleihung der Hermann-Kesten-Medaille 1995 besteht sie aus konventionellen Bio- und Bibliographien. Für Zeitungsleute beruhigend ist, daß man auch im Medium CD-ROM die gleichen Fehler machen kann wie im konventionellen Druck. Die Bio- und Bibliographien sind in nicht gefetteter Schrift weiß auf schwarz gesetzt und schlecht lesbar. Dafür versöhnen am Schluß Serge Webers aus dem Radio-Bremen-2-Programm vertraute Jingles, eine Pointe des Gestalters, die hier nicht verraten wird, und die höfliche Verabschiedung „Wir danken für Ihre Aufmerksamkeit“. ck

„Günter Grass“ auf CD-ROM, Radio Bremen und Steidl-Verlag 1998, 20 Mark. Außerdem im Buchhandel oder bei Steidl erhältlich ist eine CD-Aufnahme der von Grass selbst gelesenen „Unkenrufe“.

Im September liest Grass für Radio Bremen auf Hiddensee seinen Roman „Ein weites Feld“. Die Aufnahme wird später im Lesebuch im zweiten Programm ausgestrahlt und noch später ebenfalls auf CD bei Steidl veröffentlicht.